Wie Dagobertshausen zum Freizeitpark wurde
Ute Göbel-Lehnert und Thomas Rautenberg über die Folgen von »Overtourism« in einem Marburger Stadtteil und dörfliche Idylle-Vorstellungen als Kulisse für Investoreninteressen
»Overtourism« assoziiere ich eigentlich eher mit Großstädten und bestimmten für historische Kulturdenkmäler berühmten Orten wie Venedig oder Heidelberg. Wieso entsteht das in einem zwar hübschen, aber ja nicht spektakulären Dorf?
Rautenberg: Die Vermarktung von Attraktionen im ländlichen Raum, gerade auch in kleineren Orten, gibt es schon länger, beispielsweise Göhren auf Rügen, der Grünten im Allgäu oder Hallstatt in Österreich. Dort sind die Auswirkungen des Overtourism auch am deutlichsten spürbar. Neu ist, dass jetzt auch relativ unspektakuläre Orte und Landschaften durch Super-Events und enorme überregionale Werbeanstrengungen zu einer Attraktion gemacht werden: Hier in Dagobertshausen z. B. durch eine jährliche Landpartie mit 2.500 Besuchern, saisonale Märkte, wie der vier Wochen dauernde Weihnachtsmarkt. Auch Stars, wie Jürgen Klopp oder früher Michael Schumacher, die dort Geburtstag feiern, und Trends zu Tages-, Erlebnis- und Eventtourismus-Angeboten spielen eine Rolle. Neu ist auch, dass sich dieser Eventtourismus in vormals geschützten Räumen ansiedelt: innerhalb oder unmittelbar angrenzend an Wohnbereiche. Event und Wohnen schließen sich aber aus: Open-Air-Konzerte, Großveranstaltungen mit Superstars, Attraktionen, Sensationen, all das bedeutet Menschenmassen, Lärm und Verkehr, und ist mit den Bedürfnissen und dem Leben einer Wohnbevölkerung prinzipiell unvereinbar
Gibt es wirklich einen derartigen Bedarf an Event- und Kongresslocations?
Göbel-Lehnert: Tatsächlich bestimmt das breite Angebot sehr stark die Nachfrage. Da kommt es dann zu solchen Phänomenen, dass jemand 80 Kilometer fährt, um hier beim »Erdbeerfest« ein Körbchen Erdbeeren zu kaufen, die er in der Saison natürlich auch bei sich im Ort bekäme. Eine systematische Analyse würde vermutlich ergeben, dass kein »echter« Bedarf existiert. In der Universitätsstadt Marburg haben wir ein umfangreiches Spektrum an entsprechenden Angeboten. Ein entscheidender Faktor ist die Investor-Perspektive. Wir haben es mit der hier ansässigen Deutschen Vermögensberatung zu tun, die sich vor allem am eigenen Bedarf orientiert: Die rund 30.000 DVAG-Berater*innen müssen Schulungen durchlaufen, die im Marburger Kongresszentrum stattfinden. Das idyllische Dagobertshausen dient dieser Zielgruppe als Kulisse für Abendveranstaltungen und kleinere Klausuren.
Wie hängt die DVAG mit dem Unternehmen »Vila Vita« zusammen, das die touristischen Angebote in Dagobertshausen betreibt?
Rautenberg: Beide sind, wie auch eine Vielzahl anderer Unternehmen, die hier agieren, auf die eine oder andere Weise mit der Familie Pohl verbunden. Die DVAG ist vermutlich das größte davon und die Vila Vita ist eben ein Tourismusunternehmen, das genau die Dinge anbietet, die von der DVAG nachgefragt beziehungsweise genutzt werden.
Göbel-Lehnert: Diese Verflechtungen haben sich in über 30 Bauanträgen in nur sechs Jahren niedergeschlagen, gestellt von einer Vielzahl unterschiedlich organisierter Akteure, die aber letztlich alle irgendwie mit der Familie zusammenhängen.
Worin sehen Sie die Hauptmotivation für den ungebremsten Expansionsdrang des Investors? Geht es um unternehmerische Effizienz, Konkurrenzvermeidung oder um die Einsparung von Gewerbesteuern?
Göbel-Lehnert: Der ungebremste Expansionsdrang von Vila Vita geht in alle Sparten: Hotel-, Konferenz- und Restaurant-Komplex und Reitsportanlage. Es existiert ein umfassendes Spektrum an Veranstaltungsformaten, Ereignissen, Zielgruppen. Als neue Ausrichtung kommt der geschäftliche Tourismus dazu. Unter dem Stichwort »MICE« (Meetings, Incentives, Conventions, Exhibitions) zählen dazu Tagungen, von Unternehmen veranstaltete Anreiz- und Belohnungsreisen, Kongresse und Ausstellungen. Dafür wird mit dem Hofgut Dagobertshausen nicht nur in ganz Hessen, sondern auch überregional geworben.
Rautenberg: Aus einer übergeordneten Perspektive spielt sicherlich auch eine Rolle, dass Investoren derzeit nur sehr begrenzte Möglichkeiten mit klassischen Geldanlagen haben, aufgrund der niedrigen Zinsen. Die Investorenfamilie hat genug Geld. Eine gewisse Leerstandsproblematik im ländlichen Raum und dadurch bedingte günstige Einstiegsmöglichkeiten in Immobilien sind ein weiterer Faktor. Ein dritter Aspekt ist die Steuervermeidung im Konzern durch Schaffung von Abschreibungsobjekten.
Wie hat der »Ausverkauf« das Zusammenleben und Zugehörigkeitsgefühl im Dorf verändert?
Rautenberg: Es gab zwar vereinzelt bereits Wegzüge, aber die »Ausverkauf«-Metapher im Buchtitel beschreibt eher das Worst-Case-Szenario einer weiteren Expansion. Bei den Bürger*innen existiert eine Bandbreite unterschiedlicher Ansichten: Während sich Vertreter*innen, und Unterstützer*innen der Stadtteilinitiative kritisch positionieren, gibt es andere, die Probleme eher ignorieren, leugnen oder mindestens relativieren, nach dem Motto: »Na, wir haben ja was davon und können auch mal zum Weihnachtsmarkt gehen.« In persönlichen Gesprächen erleben wir eher Tendenzen von Rückzug, Resignation und Verdrängung. Punktuell war von Polarisierung oder Spaltung die Rede, es gab jedoch keine offenen, massiven Konflikte zwischen Anwohner*innen.
Göbel-Lehnert: Zur Einordnung muss man aber wissen, dass Dagobertshausen kein typisches Dorf mit Vereinsleben, Brauchtum oder Begegnungsräumen ist, sondern eher ein Ort für Menschen, die ihr Zuhause auch als Rückzugsraum begreifen. Der Umgang ist höflich distanziert, für Gemeinschaft gibt es keine ausgeprägte Infrastruktur. Es ist also nicht wie in anderen Orten, wo eine neue Umgehungsstraße dazu führt, dass sich alle auf die Traktoren schwingen und protestieren. Es gab auch Vereinzelung: Als wir mit der Stadtteilinitiative anfingen, haben wir beispielsweise festgestellt, dass es vorher durchaus einzelne Widersprüche von Bürger*innen gegeben hat, die aber mit ihrem Protest bei der Politik gar kein Gehör gefunden haben.
Sie beschreiben eine Verwaltung, die lange sehr schleppend und passiv agiert. Hat das in Ihren Augen System, oder geschieht es möglicherweise geradezu auf Anweisung der politisch Verantwortlichen?
Rautenberg: Wir wollen nicht spekulieren, ob es wirklich direkte Anweisungen gibt aus dem politischen Raum. Aber was wir in Gesprächen mit Oberbürgermeister, Bürgermeister und Führungskräften aus der Verwaltung gemerkt haben, ist, dass sich beide Seiten den Ball wechselseitig zuschieben. Die Verwaltung verweist darauf, dass der Magistrat in Sachen Stadtentwicklung erst mal entsprechende Beschlüsse fassen müsste, und der Bürgermeister sagt: »Wenn da ein Bauantrag gestellt wird, dann entscheidet das Bauamt nach Recht und Gesetz und da halten wir uns völlig raus.« Genau diese organisierte Unverantwortlichkeit bringt Bürgerinnen und Bürger immer mehr auf die Straße und in den Protest. Allein in den westlichen Stadtteilen Marburgs sind derzeit vier Initiativen aktiv, die sich gegen überdimensionierte Straßenbauprojekte, Windkraftparks und das ungehemmte Wachstum von Industrien in unmittelbarer Nähe zu Leben und Wohnen von Menschen richten. Das Muster ist dabei immer das gleiche: Es kommt ein Investor mit einer Idee für eine Liegenschaft, die willfährige Politik und Verwaltung versucht, das als Erfüllungsgehilfe umzusetzen. Dann gibt es Bürgerprotest und letztendlich wird das Projekt entweder abgeblasen oder gegen den Willen der Bevölkerung durchgedrückt.
Göbel-Lehnert: Vergleichbare Entwicklungen lassen sich, mit unterschiedlichen Rollenträgern in Politik und Verwaltung, seit Jahren beobachten. Deshalb würde ich schon davon ausgehen, dass es sich um ein etabliertes Geflecht handelt zwischen der politischen Ebene, privaten Investoreninteressen und auch einem gewissen Nutzen für die Stadt. Es gibt auch den ein oder anderen belegbaren Hinweis der direkten Einflussnahme, beispielsweise auf baurechtliche Entscheidungen oder Rahmenvorgaben bei der inzwischen international genutzten Reitsportanlage. Um sie als Sondergebiet zu ermöglichen, wurden seinerzeit Ackerflächen auf Böden erster Güte umgewidmet. Die übergeordnete Behörde, das Regierungspräsidium in Gießen, hatte das ursprünglich abgelehnt, worauf nach einer Intervention seitens der Politik in Marburg mit der überregionalen Bedeutung argumentiert wurde. Letzlich wurde das Sondergebiet genehmigt. Natürlich marschiert der Bürgermeister nicht jeden Tag einmal in die Verwaltung und erteilt Anweisungen, aber es scheint subtilere, über Jahre gewachsene Strukturen zu geben.
Wieso überlassen Ihrer Meinung nach so viele Gemeinden die Stadtentwicklung den Investoren, anstatt selber strukturelle Vorgaben zu machen? Gerade wenn sie landschaftliche oder sonstige »Pfunde« haben, mit denen sie wuchern könnten.
Rautenberg: Salopp zusammengefasst ist es einfacher, es den Investoren zu überlassen. Aktive Stadtentwicklungspolitik ist für Politik und Verwaltung zeitlich, finanziell und personell viel aufwendiger. Ich war ja zuletzt in der Frankfurter Verwaltung Kämmereiamtsleiter und wenn ich an dortige Stadtentwicklungsprojekte denke, Riedberg oder Gateway Garden auf den ehemaligen USArmy-Flächen, da hat die Stadt, direkt oder ausgelagert über extra gegründete Gesellschaften, große Aufwendungen gehabt für Infrastruktur. Natürlich sind die Dimensionen nicht vergleichbar, aber hier in Marburg lässt man die Investoren, beispielsweise aus der Pharmaindustrie, einfach immer weiter investieren, es werden Unmengen Parkplätze geschaffen und ansonsten passiert eigentlich gar nichts. Bis man auf einmal aufwacht und feststellt, dass der Individual- und Schwerlastverkehr jetzt durch die Wohngebiete führt.
Göbel-Lehnert: Meines Erachtens geht es auch um Rollenverständnis und -wahrnehmung. Es erfordert auf allen Ebenen bestimmte Kompetenzen, solche Prozesse anders anzugehen, zu steuern und die Menschen mitzunehmen: z. B. auftretende Widerstände nicht als störend zu betrachten, sondern als konstruktiven Teil des Planungsprozesses. Die Rollenträger kommen ja vielfach aus ganz anderen Berufen und können das gar nicht gelernt haben.
Wenn Sie anderen Orten drei Ratschläge geben könnten: Was ist am wichtigsten um den »Ausverkauf« zu verhindern und wer sind dafür die zentralen Akteure?
Göbel-Lehnert: Von vorrangiger Bedeutung ist eine planvolle und ausgewogene Stadtentwicklung im Sinne eines Masterplans mit der Zielrichtung, dass gemeinsame Bürgerinteressen Vorrang haben müssen vor Einzelinteressen von Investoren. Das zweite ist eine kraftvolle Bürger-Initiative, vielleicht auch zunächst mal mit einer kleinen Kerngruppe zu starten, die aber einen sehr, sehr langen Atem braucht. Frühzeitige Intervention und Öffentlichkeitsarbeit sind zwingend erforderlich. Drittens ist die Kommunikation mit allen relevanten Akteuren und auf allen Ebenen äußerst wichtig, also mit dem Magistrat, der Verwaltung, Politiker*innen aller Parteien. Die direkte Auseinandersetzung mit Investoren fanden wir dagegen nicht weiterführend, da landet man schnell auf einer juristischen Ebene, die viel Geld kostet, und wo Investoren immer am längeren Hebel sitzen. Letztlich liegt das strukturelle Problem nicht in den Interessen der Investoren, sondern in der fehlenden Steuerung begründet. Es kommt es vor allem auf die Bürgerinnen und Bürger an, die sich für ihren Ort interessieren müssen und auch Möglichkeiten der konsequenten und echten politischen Beteiligung brauchen. Wir haben inzwischen auch hier in Marburg ein Bürgerbeteiligungskonzept, das in der Praxis bisweilen immer noch eher eine Alibifunktion hat. Die Bürger*innen werden eben nicht frühzeitig beteiligt, sondern erst im Nachhinein, und ihre Beiträge werden nicht als konstruktive Elemente des Planungsprozesses gewürdigt, sondern eher als lästige »Störelemente« abgetan.
Dagobertshausen
Ja, der Ort heißt wirklich so, schon seit er vor rund 750 Jahren das erste Mal urkundlich erwähnt wurde und aus wenig mehr bestand als ein paar Bauernhöfen und der von ihnen bewirtschafteten Natur. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde aus dem hessischen Dorf ein Stadtteil von Marburg, der seitdem vor allem als ruhige Wohngegend diente. Historischer Ortskern, vier große, rund 200 Jahre alte Hofgebäude und die Felder der Umgebung erinnern die gut 350 Menschen, die hier leben, noch an Dorfidylle. Doch damit ist es vorbei, seit eine Marburger Unternehmerfamilie 2012 begann, sie systematisch als Investitionsobjekt zu nutzen. Was mit dem Ankauf eines frei gewordenen Hofkomplexes als noch überschaubare Anlage gestartet ist, wurde in den Folgejahren scheibchenweise sowohl flächen- wie auch nutzungsmäßig zu einer überdimensionierten Event- und Freizeitindustrie erweitert. Pro Jahr kommen rund 80.000 Besucher*innen; ungefähr jeden zweiten Tag gibt es Veranstaltungen, etwa ein Drittel der Fläche von Dagobertshausen ist mittlerweile im Besitz des Investors.
Ute Göbel-Lehnert und Dr. Thomas Rautenberg
...gehören zu den Dagobertshausenern, die sich der Verwandlung des Ortes in einen Freizeitpark entgegenstellen. Sie gründeten 2018 die Stadtteilinitiative Leben und Wohnen in DAGO und beschreiben in dem Buch »Dagobertshausen. Ausverkauf eines Dorfes?« (Marburg 2020) anschaulich, welche politischen Interventionen und Unterlassungen zum Ausverkauf eines Dorfes führen können. Durch ihre Tätigkeiten in unterschiedlichen Bereichen der Kommunal- und Landesverwaltung haben beide auch berufliche Erfahrungen mit derartigen Prozessen. Mit Ute Göbel-Lehnert und Thomas Rautenberg sprach Sigrun Matthiesen.
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