Zwei linke Hände

Merlin Rolfs war als Kind Linkshänder, doch seit der Einschulung benutzte er nur noch seine rechte Hand. Der Versuch einer Rückschulung auf eigene Faust.

  • Olivier David
  • Lesedauer: 6 Min.

Hat es jemand mitbekommen? Vor ziemlich genau zwei Wochen wurde der internationale Tag der Linkshänder gefeiert. Der Ehrentag jener seltenen Spezies, von denen man weiß, dass es sie gibt, aber man kennt, wenn überhaupt, nur höchstens ein oder zwei dieser Linkshänder. Bis vor rund einem Jahr hatte auch Merlin Rolfs kaum Berührungspunkte mit der Frage, welche Hand für ihn die führende ist. Das änderte sich, nachdem sich die damalige Freundin des 40-Jährigen trennte. Der eingeschlagene Weg, der Job, alles kam von einem auf den anderen Tag auf den Prüfstand. Eine Art Midlife-Crisis möchte man meinen, doch das wird seiner Geschichte nicht gerecht. Mittlerweile kann Rolfs über seine, wie er es nennt, »Links-rechts-Schwäche in der Lebensfindung« lachen - doch der Weg bis dahin war steinig.

Ein früher Montagabend Mitte August. Die Hitzewelle hat sich gelegt, es weht ein laues Lüftchen als Eingeständnis an die Glut der vergangenen Tage. Merlin Rolfs, kahlköpfig, Dreitagebart, wache, freundliche Augen, sitzt im Shirt in einem kleinen Hamburger Stadtgarten hinter seiner Wohnung. Er erzählt von dem Tag, an dem er sein Erweckungserlebnis hatte, so nennt er den Moment, der sein Leben für immer veränderte. Wie um zu beweisen, dass er die alltäglichen Handgriffe auch nach seiner begonnenen Rückschulung beherrscht, so nennt sich das Umlernen auf die originäre Hand, wird er in den zwei Stunden des Gesprächs gestikulieren, Wasser reichen, seine neu erworbene Linkshänder-Schreibunterlage zeigen - und das alles mit seiner neuen, alten linken Hand.

Es war kurz nach der Trennung seiner damaligen Freundin vor rund einem Jahr. Da las Rolfs in einem Wissenschaftsmagazin eine Rezension über das Buch »Der umgeschulte Linkshänder« von Barbara Sattler. Mit jedem Wort, jedem Kapitel, kamen immer mehr Fragen. Hatte er früher als Kind nicht noch alles Mögliche mit der linken Hand gemacht? Rolfs erinnert sich, dass ihm schon mal gesagt wurde, dass er womöglich Linkshänder sei, und auf einmal ergab für ihn alles einen Sinn: Sein extremes Kurzzeitgedächtnis, das Gefühl, falsch zu sein im eigenen Leben, das Gefühl, immer 100 Prozent zu geben, aber es kommt zu wenig dabei rum - die Lösung eines Großteils seiner Probleme, so befand er, lag plötzlich auf der Hand. Oder besser: in seiner Hand.

Dramatische Geburt als Auslöser

Rolfs rief bei seiner in Frankreich lebenden Mutter an und bat sie, nach alten Kinderfotos zu gucken. Würde vielleicht daraus hervorgehen, welche damals seine dominante Hand war? Die Antwort der Mutter kam wie aus der Pistole geschossen. »Da brauche ich gar nicht gucken, du hast früher alles mit der linken Hand gemacht.« Einige Wochen später relativierte sie ihre Aussage allerdings wieder. Er habe sowohl mit der linken als auch mit der rechten Hand gegriffen, gespielt, gegessen. Rolfs lässt sich von dieser neuen, plötzlich doch wieder unklaren Erkenntnis nicht aus der Ruhe bringen und sieht den Grund für den wechselnden Handgebrauch in seiner dramatisch verlaufenen Geburt.

Kurz vor der Entbindung habe plötzlich sein Herz aufgehört zu schlagen, weil sich die Nabelschnur um seinen Hals wickelte. Die Ärzte hätten ihn dann per Kaiserschnitt zur Welt gebracht. Doch für einen Neugeborenen können schon kurze Momente ohne Sauerstoff für bleibende Schäden im Gehirn sorgen. »Da die dominante Gehirnhälfte mehr Sauerstoff verbraucht als die nicht-dominante, ist der Schaden dort am größten«, sagt er. Um die geschädigte Seite zu entlasten, werde die andere Gehirnhälfte automatisch mehr eingesetzt, so käme es dazu, dass Kinder ihre Händigkeit wechseln - der Rest ergäbe sich durchs Imitieren.

Anruf bei Barbara Sattler. Die Psychologin ist gerade in Berlin, wo sie Lehrkräfte und Therapeut*innen schult, das Thema: der richtige Umgang mit bereits umgeschulten und noch nicht umgeschulten Linkshändern. »Zertifizierte Linkshänderberaterin« nennt sie das. Mehr als ein halbes Dutzend Bücher hat sie bereits geschrieben. Der WDR betitelte sie in einem Beitrag als »Anwältin der Linkshänder«. Auf Nachfrage bestätigt sie, dass sich der Sauerstoffverlust während Rolfs Geburt im Gehirn auf die Händigkeit auswirken könne. Kinder, die ihre Händigkeit immer wieder wechseln, werden oftmals spätestens mit dem Eintritt in die Schule zu Rechtshändern, das funktioniere heute allerdings meist ohne Zwang.

»Die Welt ist auf rechts ausgerichtet«, sagt Sattler. »Das fängt damit an, dass Notschalter häufig auf der rechten Seite sind, auch das Bezahlen am Fahrkartenautomaten ist rechts. Das heißt, die Linkshänder werden permanent ein bisschen umgeschult.« Da die Welt von Rechtshändern dominiert werde, schauen sich viele Linkshänderkinder Dinge bei Rechtshändern ab und wechseln so oftmals die Hand. Eine gewaltvolle Umschulung, wie noch Mitte des vergangenen Jahrhunderts, wo es für Linkshänder Schläge auf die Finger gab, sei da nicht mehr von Nöten. Unwissenheit, Unsicherheit und gesellschaftlicher Druck sorgen noch immer dafür, dass Eltern und Lehrer von Linkshändern - ob bewusst oder unbewusst - viele Kinder zu Rechtshändern umerziehen.

Nachdem Rolfs Sattlers Buch verschlungen hatte, stand für ihn fest, dass er sich zurückschulen wollte. Doch anders als geraten, entschloss er sich, es auf eigene Faust zu versuchen. Ein fataler Fehler. »Ich habe direkt angefangen Texte mit links zu schreiben und habe mich total überfordert damit.« Die Folgen: Sprachfindungsprobleme, Kopfschmerzen, sogar Gleichgewichtsstörungen plagten ihn anfangs. Warum er es unbedingt selbst versucht habe? Als umgeschulter Linkshänder habe er sich oftmals total verausgaben müssen, um Schritt zu halten, daraus ergab sich bei ihm ein gewisser »Extremismus« im Handeln, sagt Rolfs.

In Sattlers Buch findet seine Aussage Bestätigung. Primärfolgen einer Umschulung könnten unter anderem »Widerspruchsgeist« sowie »Verhaltensstörungen« sein, heißt es da. »Linkshänder, die sich eigenständig im Handgebrauch auf ihre linke Hand rückschulen, versuchen oftmals direkt mit dem Schreiben anzufangen. Das heißt, sie müssen eine feinmotorisch noch nicht automatisierte intellektuelle Handlung dauerhaft durchführen und dann noch einen Inhalt rüberbringen, das ist eine völlige Überforderung für das Gehirn«, sagt Sattler.

Überforderung im Alleingang

Überfordert von seinem Alleingang entschied sich Rolfs am Ende für den Kompromiss: Er versucht die Umschulung nun zwar weiterhin ohne professionelle Hilfe, hält sich aber strikt an die Empfehlungen Sattlers. Ein Schritt nach dem anderen. Ein zäher, aber erfolgversprechender Prozess, der laut Sattler in der Regel etwa zwei Jahre dauert. Das Leben meistert Rolfs nun weitestgehend mit links. In doppeltem Sinne. Mit der Rückschulung setzt bei ihm auch eine Rückbesinnung ein, auf das, was ihm wirklich wichtig ist. »Ich habe das Gefühl bei mir selbst angekommen zu sein, die Dinge gelingen mir wieder. Mein Selbstbewusstsein ist ein ganz anderes als vor der Rückschulung.« Seit einiger Zeit führt Rolfs nun auch eine neue Beziehung.

Auf dem Gartentisch hinter seiner Wohnung liegt ein Zettel, auf dem steht - etwa zwei Dutzend Mal - mit links geschrieben: »Super Interview«. Eine Schreibübung und gleichzeitig sein Wunsch für das Gespräch mit dem Autoren. Für ihn ist der eingeschlagene Weg der richtige.

Auch Sattler ist nicht von ihrem Weg abzubringen. Sie wirbt für Aufklärung, es mangele nämlich an vielem. Es müssten mehr Informationen für Erzieher*innen und Lehrer*innen bereitgestellt werden, zusätzlich bräuchte es Langzeitstudien, gerade bei Kindern mit wechselndem Handgebrauch. Es gibt immer noch viel zu tun.

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