Notfalls Streik mit Abstand

Tarifverhandlungen für 2,3 Millionen Beschäftigte im Öffentlichen Dienst starten

  • Jörg Meyer
  • Lesedauer: 3 Min.

So wie immer wird es nicht, wenn an diesem Dienstag die Verhandlungsspitzen erstmals zusammenkommen. In Potsdam treffen sich Gewerkschaften und Arbeitgeber zum Auftakt der Tarifrunde für den Öffentlichen Dienst in Bund und Kommunen. Die fast schon traditionelle Eröffnungskundgebung vor dem Verhandlungsort wird es wohl geben, aber zwei Nummern kleiner und unter Bedingungen einer Pandemie.

An drei verabredeten Verhandlungsterminen bis Ende Oktober werden Verdi-Chef Frank Werneke und seine Stellvertreterin Christine Behle sowie der Vorsitzende des Deutschen Beamtenbundes und Tarifunion (DBB), Ulrich Silberbach, über die Bezahlung für rund 2,3 Millionen Beschäftigte verhandeln; Verdi pokert stellvertretend für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und die Polizeigewerkschaft GDP. Ihnen gegenüber sitzen CSU-Bundesinnenminister Horst Seehofer und der Präsident der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände, Lüneburgs SPD-Oberbürgermeister Ulrich Mägde.

Es wird eine harte Tarifrunde erwartet. Mägde hatte schon im Frühsommer in Interviews gesagt, dass es nichts zu verteilen gebe, und sich für eine lange Laufzeit des neuen Entgelttarifvertrages ausgesprochen. Die Gewerkschaften fordern dagegen unter anderem 4,8 Prozent mehr Geld bei einer Laufzeit von zwölf Monaten, mindestens aber 150 Euro. Dazu kommen »Erwartungen« - also Themen, über die gesprochen werden soll, für die aber nicht gestreikt werden darf. Dazu zählen an erster Stelle die Angleichung der Arbeitszeiten in Ost und West sowie die Entlastung der Beschäftigten durch mehr freie Tage.

Zur Erklärung: Die Gewerkschaft der Flugsicherung hatte im Jahr 2012 zum Streik aufgerufen und mehrere Tage die Arbeit niedergelegt. Doch einige der Forderungen waren nicht streikfähig, da sie sich auf einen noch laufenden, nicht gekündigten Tarifvertrag bezogen. An der Stelle gilt gesetzlich eine Friedenspflicht. Das Bundesarbeitsgericht wertete den gesamten Streik als rechtswidrig; der Gewerkschaft drohten hohe Schadenersatzforderungen mehrerer Fluggesellschaften. Als Folge dieser aus Beschäftigtensicht höchst ärgerlichen Entscheidung achten Gewerkschaften nunmehr penibel darauf, nur das als »Forderung« zu bezeichnen, wofür sie streiken dürfen.

Ohnehin könnte sich ein Arbeitskampf schwierig gestalten. In der Verdi-Mitgliedschaft hält sich die Lust auf große Versammlungen wegen der Pandemie in Grenzen. »Wir stehen vor einer ungewöhnlichen Tarifrunde«, sagte Frank Werneke. Doch das bezieht sich nicht in erster Linie auf mögliche Warnstreiks. Es gebe eine »besondere Erwartungshaltung« seitens der Beschäftigten - besonders im Gesundheitswesen. Nach der Nullrunden-Aussage von Mägde hatte es DBB-Chef Silberbach vorige Woche auf den Punkt gebracht: »Nach dem Klatschen kommt die Klatsche.«

Für Werneke geht es um die »Glaubwürdigkeit von Politik«. Den Ankündigungen und Lobhudeleien für diejenigen, die wesentlich gegen das Coronavirus kämpfen, müssten nun auch Taten folgen. Im Gegensatz zu den Arbeitgebern sieht Werneke durchaus Verteilungsspielraum. Es gebe klare Indikatoren, dass es in Deutschland zu einer raschen wirtschaftlichen Erholung komme, so sein Argument.

»Um uns herum sehe ich auch ganz andere Abschlüsse«, ergänzte Verdi-Vize Behle. In anderen Branchen hatten die Gewerkschaften auch nach Beginn der Pandemie bereits mehrere Entgelttarifverträge mit über fünf Prozent mehr Lohn bei unterschiedlichen Laufzeiten abgeschlossen. Eine Forderung unter fünf Prozent sollte aber klarstellen, dass die Gewerkschaften sich der angespannten Lage bewusst sind, so Behle.

»Unsere Forderungen berücksichtigen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen«, sagte GEW-Vorstandsmitglied Daniel Merbitz am Montag auf nd-Anfrage. »Es ist jedoch falsch, in der Krise zu sparen.« Es gehe um die Wertschätzung der »unverzichtbaren Arbeit aller Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Dienst, die in der Coronakrise hervorragende Arbeit leisten«.

Dass die Arbeitgeber von ähnlichen Einsichten getragen in die Tarifrunde gehen, ist indes unwahrscheinlich. Verdi-Chef Werneke rechnet daher nicht mit einem »verhandelbaren« Angebot der Arbeitgeber bereits in der ersten oder zweiten Runde der Verhandlungen. Wie die Beschäftigten Druck hinter ihre Forderungen bringen können, bleibt abzuwarten. Zumal die Tarifrunde unterbrochen werden soll, wenn die Infektionszahlen wieder stark ansteigen. Handlungsfähig seien die Gewerkschaften aber durchaus, meinte Werneke: »Wenn es notwendig wird, kann man auch mit 1,5 Meter Abstand streiken.«

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