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- Kurden in der Türkei
Eine Frage für Philosoph*innen
IN SCHLECHTER GESELLSCHAFT: Sibel Schick hat lange Zeit geglaubt, dass es nicht wünschenswert sei, Frau oder kurdisch zu sein.
Ich sitze am Strand und spiele mit einem Mädchen, das ich gerade hier kennenlernte. Ich bin vielleicht sieben. Meine Großeltern sitzen ein paar Meter von uns entfernt unterm Sonnenschirm und reden auf Kurdisch miteinander. In einer türkischen Stadt. In den 90er Jahren.
Der Vater des Mädchens kommt zu uns und fragt mich, wo wir herkommen. Ich sage: »Aus Varto.« Er sagt, dass Menschen aus Varto Kurden seien, und nimmt seine Tochter weg. Als wäre das selbsterklärend. Ich verstehe nichts.
Ich bin inzwischen ein paar Jahre älter, sitze nach der Schule im öffentlichen Bus, fahre nach Hause. Trage ein blaues Kleid mit weißem Kragen, eine Schuluniform, die klarstellt, dass ich Grundschülerin bin. Ein junger Mann sitzt neben mir, er ist vielleicht 19, vielleicht auch älter. Er schiebt seine Hand unter meinen Rock und fummelt an meinem Hintern herum.
In meiner Klasse gibt es zwei Jungs, die ebenso kurdisch sind. Ich will anders sein als sie, ich will nicht als Kurdin angesehen werden, ich will nicht abweichen, ich will bloß dazugehören. Kurden sind faul, die kommen zu spät, haben schlechte Noten und eine hässliche Handschrift. Natürlich stimmt das alles nicht, aber ich bin ein Kind und ich glaube alles, was mir meine Lehrerin sagt. Sie schlägt diese Jungs öfter. Jede Ohrfeige, die auf ihrem Gesicht landet statt meinem, ist für mich wie eine Bestätigung. Ich hasse alles, was zu mir gehört. Ich will mein Ich zurücklassen, und jemand anderes sein.
Ab der sechsten Klasse wechselt die Uniform. Eine weiße Bluse und ein karierter Rock. Auf der Straße werde ich ständig belästigt, überwiegend von jungen erwachsenen Männern. Hupende Autos, pfeifende, blöde Sprüche drückende Männer. Männer, die mir hinterherlaufen. Männer, die sich mir in den Weg stellen und mich zwingen, mit ihnen zu reden. Männer, die mich unerlaubt anfassen, begrapschen. Jeden Tag, an dem ich die Wohnung verlassen muss, passiert irgendetwas. Alles am helllichten Tag vor den Augen aller. Niemand mischt sich ein, niemand schreitet ein, niemand tut etwas dagegen. Dass ich von Männern bedrängt werde, ist gegeben, ist eine Selbstverständlichkeit. Ist halt so.
Ich gehe in die Schule, fahre durch die Stadt ekelhafter Männer, komme im Schulhof an, stelle mich zum Appell, schwöre mit anderen zusammen, eine aufrichtige Türkin zu sein. Ich bin keine Türkin, zwar spricht niemand darüber, aber alle wissen es. Trotzdem muss ich schwören, das ist die Regel. Jeden Morgen. Jahrelang beiße ich die Zähne zusammen und erinnere mich, dass ich Kurdin bin. Mein Starrsinn lässt aber über die Jahre nach. Irgendwann lasse ich los. Es ist okay, wenn ich keine Kurdin bin, weil ich jeden Tag in den Nachrichten höre, dass Kurd*innen Babymörder sind, Terrorist*innen, die die Söhne weinender türkischer Mütter töten. Es ist okay, keine Kurdin mehr zu sein. Es gibt offenbar nichts am Kurdentum, was erstrebenswert ist.
Irgendwann bin ich kein Kind mehr, ich bin eine junge erwachsene Frau. Ich laufe mit meinen Großeltern durch die Stadt, sie sprechen Kurdisch miteinander. Mitten auf der Straße. Ich denke, die schlagen uns gleich zusammen. Ich will mich verstecken. Wo soll ich mich verstecken?
Wenn ich heute zurückblicke, sehe ich, dass ich keinen einzigen Tag meines Lebens frei von Angst und Stress verbringen durfte. Frei von Hass und Unterdrückung. Du weißt nicht, was diese Art von Stress mit dir macht, wenn du ihn nicht selbst erlebt hast. Und das Schlimmste an all dem ist die Tatsache, dass ich den Hass der Gesellschaft, deren Teil ich ja war, verinnerlicht hatte. Ich hatte geglaubt, dass es nicht wünschenswert sei, Frau oder kurdisch zu sein. Deshalb verortete ich mich immer woanders. Ich bin anders. Lasst mich in Frieden. Ich bin kein typisches Mädchen, ich hänge eher mit Jungs rum. Ich bin keine typische Kurdin, ihr seht doch, wie ich aussehe. Lasst mich in Ruhe mit eurem Scheiß. Ich bin keine Frau. Ich bin keine Kurdin. Ich bin einfach nur ein Freak.
Wer wäre ich, wenn mir das Ganze erspart geblieben wäre? Wo wäre ich, wenn ich nicht so viel Kraft hätte investieren müssen, den erlernten Selbsthass zu überwinden. Eine Frage für Philosoph*innen.
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