Ballett unter der Fußball-Arena
Das 26. Jüdische Filmfestival Berlin Brandenburg (JFBB) läuft bis 13. September
Manchmal, wenn sich Nadya Timofeyeva auf dem Boden des Tanzsaals ihrer Ballettschule zur Entspannung hinlegt, ereignet sich über ihr ein mittelschweres Erdbeben. Dann trampeln Fans des Clubs »Beitar Jerusalem« über ihren Kopf hinweg in das Teddy-Fußballstadion, dann ist Spieltag. Denn Nadyas Tanzschule liegt direkt unter der Fußball-Arena. Der großartige israelische Dokumentarfilm »Underground Ballet« erzählt davon, wie sie die einzige klassische Balletttruppe Jerusalems leitet, ein Herzensprojekt ihrer Mutter Nina, die als gefeierte Ballerina des Bolschoi-Theaters schließlich nach Israel auswanderte. Welche Entbehrungen finanzieller, psychischer und physischer Art mit dem Ballett verbunden sind, zeigt der Film - zuweilen in horizontaler Parallelmontage mit Szenen aus dem physisch ähnlich harten Fußballsport über dem Tanzgeschehen. Dabei porträtiert Regisseurin Lina Chaplin in Nadya eine engagierte und sympathische Frau, die dem Klischee der strengen Trainerin so gar nicht entsprechen will.
»Underground Ballet« ist einer von 44 Kurz- und Spielfilmen der 26. Ausgabe des Jüdischen Filmfestivals Berlin Brandenburg (JFBB). Feierte das Festival im letzten Jahr noch ausladend an 14 Spielstätten in Berlin und Brandenburg sein Vierteljahrhundert-Jubiläum, läuft im Corona-Jahr alles etwas anders. So wird das JFBB 2020 als sogenanntes Hybridfestival begangen: Es findet online und in neun ausgewählten Kinos mit eingeschränkter Zuschauerzahl in Berlin und Potsdam statt. Das reduziert das physische Festivalerlebnis zwar erheblich, aber nun können erstmals deutschlandweit Online-Zuschauer am vielfältigen Angebot des JFBB teilhaben.
Auch in diesem Jahr gibt es etliche Deutschland-Premieren, darunter den preisgekrönten ungarischen Spielfilm »Those who remained« von Barnabás Tóth. Er reiht sich ein in die Tradition des JFBB, in unterschiedlichen Genres und Formen den Zweiten Weltkrieg und insbesondere die Shoah zu thematisieren. Tóths Film handelt von zwei Holocaustüberlebenden in Nachkriegs-Ungarn. Der etwa 40-jährige Arzt Aldo hat im Vernichtungslager Frau und Kinder verloren und kümmert sich nun um die 16-jährige Klara. Das hochintelligente und sensible Mädchen sträubt sich dagegen, als Waise bezeichnet zu werden und hofft auf die Rückkehr ihrer - nachweislich ermordeten - Eltern. Erst die Fürsorge Aldos lässt Klara allmählich die Wirklichkeit akzeptieren, und auch sie gibt dem melancholischen Mediziner wieder eine Portion Lebensmut zurück. Dass ihre - platonische - Beziehung in dem angehenden stalinistischen System argwöhnisch betrachtet wird, verstärkt den Druck auf die Figuren. Dennoch keimt in dieser Geschichte von Liebe und geteiltem Leid auch Hoffnung auf. Dass die nichtjüdischen Ungarn um sie herum die beiden nie so verstehen werden wie sie einander verstehen, macht dieser einfühlsam beobachtete Film allerdings deutlich, und auch, dass die Zeit das Trauma der beiden nie vollständig heilen wird.
Als junger Jude in Deutschland muss man heutzutage dagegen einfach mal Dampf ablassen: über antisemitische Sprüche, die AfD, die eigene Familie oder Menschen, die das Wort »Jude« nicht aussprechen können. So geht es Dima, dem Protagonisten des erfrischenden und lehrreichen Kurzfilms »Masel Tov Cocktail« (Regie: Arkadij Khaet, Mickey Paatzsch). Eine einzige lange Schimpftirade lässt der Teenager auf die Zuschauer los: Er hat einem Mitschüler ins Gesicht geschlagen, nachdem dieser sich über den Holocaust lustig gemacht hatte und soll sich nun bei dem Gleichaltrigen entschuldigen. Denn der Vorfall wird von der Schulleitung als normaler Streit unter Schülern heruntergespielt, und dem widerspricht Dima (Alexander Wertmann) heftig - und zu Recht. Zusätzlich aufgepeppt wird das 30-minütige Werk durch Inserts, die Statistiken über jüdisches Leben in Deutschland liefern und mit Wunschvorstellungen Deutscher über ihre Rolle im Krieg aufräumen.
Von einer einzigartigen Zeitzeugin, die mit Mitte 20 als Agentin gegen die Nazis kämpfte, handelt wiederum der Dokumentarfilm »Chichinette - Wie ich zufällig Spionin wurde« von Nicola Alice Hens. Heute ist Marthe Cohn, die Protagonistin des Films, 100 Jahre alt. 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb die französische Jüdin ein Buch darüber, wie sie sich der Résistance anschloss und etliche Menschenleben rettete. Das Potsdamer Thalia Kino zeigt den Film am 9. September in Anwesenheit der Regisseurin und des Produzenten.
Anfang des Jahres starb der als Issur Danielovitch geborene Hollywood-Star Kirk Douglas im Alter von 103 Jahren. Der athletische blonde Mime mit dem kantig-angelsächsischen Künstlernamen musste sich als Jude in der Traumfabrik immer wieder gegen Vorurteile und Klischees behaupten. In der Retrospektive des JFBB wird nun mit »The Juggler« seiner gedacht. Der Spielfilm von 1953, in dem Douglas die Hauptrolle spielt, handelt als einer der ersten Hollywood-Filme von einem Holocaustüberlebenden und wurde als erster US-Film in Israel gedreht.
Bei den Spielfilmen mit zeitgenössischer Thematik sticht das israelische Drama »Incitement« (Deutschlandpremiere) von Yaron Zilberman hervor. Kompromisslos schildert es den Werdegang des Mörders von Jitzchak Rabin und davon, wie der Tod des damaligen israelischen Ministerpräsidenten im Jahr 1995 den Friedensprozess im Nahen Osten zum Erliegen brachte. Dass sich der aus Jemen stammende Student Yigal Amir (Yehuda Nahari Halevi) zunehmend radikalisierte und seinen Mordplan schließlich zielgerichtet und kaltblütig ausführte, zeigt der Film in kenntnisreichem Detail. Wie ein auf sein unweigerliches Ende zusteuernder Countdown ist das Drama gefilmt und zeigt die tiefe Spaltung in der israelischen Bevölkerung, die bis heute andauert.
Doch zum JFBB 2020, das übrigens das letzte der langjährigen Festivalleiterin Nicola Galliner ist, gehören auch Humor oder Kulinarisches. So widmet sich »Hummus! The Movie« der berühmten nahöstlichen Speise oder erzählt »The Electrifiers« komödiantisch von einer Rentnerband, die immer noch auf ihren Durchbruch wartet.
Weitere Infos unter www.jfbb.de/
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