Baum schütteln in den Pyrenäen
Während Primoz Roglic ins Gelbe Trikot fährt, lichtet sich das Feld der Tourfavoriten früh
Nur eine Woche Tour de France ist vorbei, dennoch wirkt das Favoritenfeld zerzaust wie selten zu einem so frühen Zeitpunkt. Einige Anwärter sind sogar schon komplett aus dem Klassement gefallen. Frankreichs Liebling Thibaut Pinot etwa verlor wegen der Folgen seiner Rückenblessur fast 20 Minuten auf die Konkurrenz. Von der kolumbianischen Kletterfraktion hat es Landesmeister Sergio Higuita sowie den frisch gebackenen Sieger der Dauphiné-Rundfahrt, Dani Martinez, erwischt.
Schwarze Tage von Sieganwärtern gehören zu den Dramen der Tour de France. Dass aber auch die Co-Kapitäne der stärksten Teams schon zurückliegen, das erstaunt. Richard Carapaz, Girosieger im vergangenen Jahr und nach der Nichtberücksichtigung der alten Tourhelden Chris Froome und Geraint Thomas beim Team Ineos als Joker neben Titelverteidiger Egan Bernal aufgeboten, verlor über zwei Minuten. Das gleiche Schicksal erlitt Tom Dumoulin, bei Jumbo Visma Co-Kapitän neben Primoz Roglic. »Ich habe mich nicht so gut gefühlt. Und anstatt selbst um Platz zehn bei der Tour mitzufahren, gebe ich lieber alles für das große Ziel unseres Teams, die Tour de France zu gewinnen«, sagte der Niederländer am Sonnabend und schüttelte auf dem Col de Peyresourde mit mächtigem Antritt das Feld durcheinander.
»Den Baum schütteln« nannte später Dumoulins Teamkollege George Bennett diese Aktion. Als vorzeitig gereifte Früchte purzelten unter anderem Spaniens Hoffnung Enric Mas, erneut Carapaz und auch Deutschlands bester Rundfahrer Emanuel Buchmann auf den Boden. Baumschüttler Dumoulin bezahlte den Kraftakt ebenfalls mit späterem Rückstand. Aber sein Kalkül war: Bin ich schon nicht gut genug, um bis zum Ende in der Gruppe mitfahren zu können, dann möchte ich wenigstens bei der Konkurrenz noch Schaden anrichten.
Das ist dem früheren Giro-Sieger gelungen. Wie schlau es ist, dass er seinem Rennstall schon frühzeitig ein Ende der Zwei-Kapitäne-Option beschert hat, wird sich in der dritten Woche herausstellen. Jetzt aber belebte die Kamikazeaktion des Niederländers das Rennen. »Es ist doch cool für die Tour, dass alles so offen ist. Ineos ist nicht das dominierende Team. Auch Jumbo Visma zeigt erste Schwächen. Für eine spannende Tour ist das gut«, meinte Ralph Denk, Chef de Bora-Rennstalls, gegenüber »nd«. Weniger zufrieden kann er mit dem Abschneiden seines Spitzenmannes Buchmann sein. Bis Sonnabend hielt sich das Ravensburger Klettertalent angesichts seiner Blessuren noch tapfer. »Er hat da den Schaden begrenzt. Er ist klug gefahren, hat bis zum Ende gekämpft. Es war uns aber auch klar, dass er aufgrund seiner Sturzverletzungen bei der Dauphiné nicht bei hundert Prozent sein wird. Radsport ist ein sehr berechenbarer Sport. Und da mussten wir anhand der Vorleistungen damit rechnen, dass er Rückstand haben wird«, analysierte Denk. »Mit seiner Form von der Dauphiné und ohne Sturz wäre er sicher mit den Favoriten mitgefahren und hätte dabei nicht einmal an seine Leistungsgrenze gehen müssen«, meinte Denk.
Am Sonntag aber konnte Buchmann nicht mehr. Schon früh am letzten Berg des Tages, dem Col de la Marie Blanque, musste er die anderen Favoriten ziehen lassen. Es war keine Tempoverschärfung, die ihn abreißen ließ. Er brachte einfach nicht mehr die nötige Kraft in die Pedalen. Schnell waren zwei, drei Minuten verloren. Eine Art Verzweiflungshoffnung bleibt dem 27-Jährigen noch. Gleich nach dem Ruhetag an diesem Montag steht eine Windkantenetappe über 168,5 Kilometer entlang der Atlantikküste auf dem Programm. »Dort wird es interessant. Da kann man schnell viel Zeit gewinnen oder viel verlieren« meinte Teamchef Denk. Da kann das »Bäume schütteln«, von ganz allein geschehen. Und wie gut vor allem das BoraTeam Windkante fahren kann, zeigte es bei der auf dem Papier leicht wirkenden Etappe am Freitag. Da verloren unter anderem der Slowene Tadej Pogacar und der Spanier Mikel Landa Zeit. Und auch das Team Ineos brachte seinen als Co-Leader gestarteten Carapaz nicht mehr nach vorn.
Nach den Leistungen in den Pyrenäen deutet sich nun ein slowenisch-kolumbianischer Vierkampf um den Toursieg an. Als momentan stärkster Kletterer hat sich Pogacar herauskristallisiert. Mit einer entschlossenen Attacke holte sich am Sonnabend mehr als die Hälfte der auf der Windkante verlorenen Zeit wieder zurück. Auch am Sonntag stiefelte er den Rivalen zumindest kurzzeitig davon. Auf gleichem Niveau mit ihm präsentierten sich am Sonnabend nur Landsmann Roglic und der Kolumbianer Nairo Quintana. Beide schienen da aber nicht den Mumm und die Entschlossenheit zu haben, den gemeinsamen Ausreißversuch auch durchzuziehen. Sie brachen ab, Pogacar trat danach noch einmal an und war von niemandem zu halten.
Ganz aus dem Attackegeschäft heraus hielt sich bislang Titelverteidiger Bernal. Sein Team Ineos fährt bislang ein verzögerndes Verteidigungstempo. Am Sonntag immerhin war er wieder auf Augenhöhe, fuhr in der gleichen Gruppe wie die beiden Slowenen. Quintana ließ hier zwar etwas nach, ist aber weiter zu beachten. Bernal hingegen scheint langsam auf Betriebstemperatur zu kommen. Am Sonnabend musste er noch zugeben: »Ich konnte der Attacke nicht folgen. Ich habe einfach nicht geglaubt, dass es möglich ist, dieses Tempo bis zum Gipfel hochzufahren. Also habe ich versucht, mein eigenes Tempo zu finden.« Am Sonntag war er dann ohne besondere Mühe ganz vorn mit dabei. Seine Stärke ist die dritte Woche. Auf diesen Zeitraum hin ist auch die Formkurve seines Teams ausgerichtet.
Die spannendsten Fragen also sind, wie lange Roglic und sein Team Jumbo Visma ihre exzellente Frühform halten können - und wann der Formhöhepunkt von Bernal kommt? Eigene Solorollen in diesem Kampf könnten Pogacar und Quintana übernehmen. Sie haben keine Teamunterstützung, wirken aber extrem stark.
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