»... wenn nicht, wirst du Metzger«

Heute wird der Schauspieler Mario Adorf 90 Jahre alt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

War er der Tragöde, so lugte ihm doch die Komödie aus den Klamotten. War er ein Gauner im Anzug, spürte man doch eine ehrliche Haut. Schlitzohr und Witzohr. Diesem Schauspieler wuchs mit den Jahren eine Sanftheit zu, die nie in einen Gegensatz zur Männlichkeit geriet - aber alles Patriarchalische wusste souverän zu zwinkern. Das war, bezogen auf Welt und Geschichte des Männlichen, ein großer Sieg der Heiterkeit. Wenigstens in der Kunst.

Zigarrenrauchende Finsterlinge, notdürftig kultivierte Zwielichter - das waren seine Gestalten. Der Italiener. Der Boss. Der Pate - den bei Francis Ford Coppola zu spielen er ablehnte, »ein Fehler meines Lebens«. Trotz eines rundum gelingenden Daseins - auch als Schriftsteller, Entertainer und Sänger - erkannte man hinter jedem selbstbewussten Auftritt Mario Adorfs noch den vorsichtigen, in sich ruhenden Menschen, der auf Distanz bedacht war. Ein Star? Der Schauspieler im nd-Interview: »Der letzte Star in Deutschland hieß O.W. Fischer. Ja, meine ich wirklich! Heute werden Stars gar nicht mehr zugelassen - nur Popularität. Das aber ist etwas ganz anderes. Nein, es fehlt die gewisse Unerreichbarkeit. Wir sind doch alle viel zu nah dran am Publikum.«

Er wird 1930 in Zürich geboren; der Vater, ein Süditaliener aus Kalabrien, ist Chirurg. Die Mutter, eine Deutsche, war dessen Röntgenassistentin, sie arbeitet später als Schneiderin; bei ihr in der Eifel wächst der Junge auf, in jahrelanger Armut, mit dem Makel, ein uneheliches Kind zu sein. Erziehung »kam wenig vor« in Adorfs Eifel-Kindheit. Wenn in den Flegeljahren, nach Ansicht der Mutter, Züchtigung nötig war, musste ein benachbarter Schmied ran - ab in den Keller, dort schlug er mit ledernem Hosengürtel gegen Balken, und der unbeschadet bleibende Mario schrie, frühschauspielerisch, den Schmerz dazu.

Die Arbeit seiner Mutter hatte den Aufenthalt des Neunjährigen im Waisenhaus nötig gemacht. Am 9. November 1938 brannten Synagogen. Am anderen Tag musste Mario im Bett bleiben, zufälliges Fieber. Er sah vom Kissen aus eine der Schwestern am Fenster stehen, war ergriffen von ihrem Weinen: Draußen schleppte man Juden fort. Als die Kameraden von der Schule heimkamen, zeigten sie ihre vollgepackten Taschen: Geplündertes aus jüdischen Geschäften. »Wäre ich in der Schule gewesen, hätte ich mitgemacht. So aber hatte ich an diesem Tag ein einschneidendes Erlebnis aus einer ganz anderen Perspektive. Es war mein Glück.« Prägungen extremen Gegensatzes: so zufällig, so hauchdünn voneinander getrennt. Sei niemand zu stolz auf seinen Willen: Was uns dirigiert, ist der Zufall. Die Mutter hat unter dem unehelichen Zustand gelitten, »aber sie hat nie zugelassen, dass sich ihr gepeinigtes Gemüt auf mich übertrug, sie hat mir Stärke gegeben, die sie selber gar nicht hatte«. Ihr wichtigster Satz: »Wenn du lernst, kommst du weiter, wenn nicht, wirst du Metzger.«

Weit ist der Weg vom Dorf in die Welt. Mario studiert Philosophie und Theaterwissenschaften, wird danach aber Statist am Theater in Zürich. Ein Hausmeister wäre fast sein Schicksal geworden, eine Sekretärin wurde seine Glücksgöttin: Ersterer wollte ihn gnadenlos hinauswerfen, als er in München auf Wohnungssuche war, zufällig in einer Straße das Schild der Falckenberg-Schauspielschule entdeckte und neugierig hineinging. Eine mitleidige Sekretärin, drückte dem Verdutzten Bewerbungsunterlagen in die Hand. Sie hat dem europäischen Film einen großen Dienst erwiesen. Adorf hat nie erfahren, wie sie hieß - wahre Engel bleiben unbekannt.

1957 spielt er im Film »Nachts, wenn der Teufel kam« einen massenmörderischen »Triebtäter« und wird sofort bekannt - und festgelegt: der Unhold vom Dienst. Er avanciert zum Vielbeschäftigten in italienischen Filmen (»Allein gegen die Mafia«), in Frankreich und Deutschland. Das klischierte gestrenge Deutsche durchbrach er mit einem kräftigen Touch Galanterie und Süden. Von der »Blechtrommel« bis zur »Affäre Semmeling« und »Rossini«: War er ein harter Kerl, war es doch sanft und tapsig.

In einem Punkt blieb er der unabänderlich Verhasste, da half ihm nichts an sonstiger Ausstrahlung. Für viele blieb dieser Mann, der sich in tückischer Tarnung Mario Adorf nannte, nämlich ein für allemal der dumpfe Schurke Santer. Der hassenswerte Jäger Winnetous, er erschoss dessen Schwester Nscho-Tschi, Old Shatterhands große Liebe (Lisa Versini). In vielen deutschen Kino-Kindheiten ein unvergessener Dämon. Und eine bezwingende Lehrstunde: Immer wieder erreicht das Böse eine erschreckende Eindringlichkeit und das Abstoßende eine Sogwirkung, ohne die das Gute nur fade, das Lautere nur lau und das Edle nur langweilig wären. Adorf schuf gewissermaßen, in »Winnetou I«, durch seine fiese Präsenz, den großen Pierre Brice. Mörder schaffen Märtyrer. Wie Judas Jesus schuf. »Dabei war ich beim Drehen der Szene, da der Schuss fällt und sie stirbt, nicht mal am Set.«

Die Mutter des kleinen Mario hatte wegen röntgenstrahlenverbrannter Beine zur Schneiderin umgelernt, den oft abgerissen wirkenden Schauspieler-Sohn später auf der Leinwand gesehen und erst spät, beim geschniegelten Boss im TV-Mehrteiler »Der große Bellheim«, beglückt gemeint, jetzt sei auch ihr Junge endlich »ein Herr«. Das Schneiderinnen-Urteil. Adorf erzählte stets bewegt von seiner Mutter, er hat ein Buch über sie geschrieben, auch über ihr Sterben, und bestimmten Filmszenen, etwa sadomasochistischer Art, verweigerte er sich stets, denn: »Ich habe einfach nur an meine Mutter gedacht, wenn es um die Grenzen dessen ging, was ich vor der Kamera treibe und was nicht.«

Seinen Vater übrigens, der hundert Zigaretten am Tag qualmte und sogar noch bei Operationen paffte, hat Adorf nur einmal im Leben gesehen, für etwa eine Viertelstunde. Da war der Sohn schon zwanzig. Bei jener späten Begegnung hatten sie einander wohl viel zu sagen, konnten es aber nicht ausdrücken. Der eine sprach noch nicht italienisch, der andere nicht deutsch. So einmalig war dieses Treffen deshalb, weil der Vater wenig später starb. »Ich besuchte ihn später noch einmal, an seinem Grab. Ich stand davor und sagte leise, was mir spontan einfiel: Na, du alter Arsch! Das klingt vielleicht herzlos, aber darin lag auch eine gewisse Vertrautheit.«

Mit den Jahren kultivierte Adorf den Typus des gemütlichen Machtmenschen, der sich hochgearbeitet hat und oben bleibt, weil er die Ängste seiner Untergebenen kennt. Man hat Worte seiner Gestalten noch im Ohr: etwa das genüssliche »Ich scheiß dich so zu mit meinem Geld« des Klebstoffmillionärs Haffenloher in »Kir Royal« oder das aufgesetzt väterliche »Kindschen«, mit dem er als rabiater Kommissar Beizmenne in Schlöndorffs Böll-Verfilmung die verstörte Katharina Blum der Angela Winkler verhörte.

Ein wirklicher Theaterschauspieler ist er nie gewesen, aber einmal, als sich das Theater zum Breitwandformat entschloss, bekam er als Bühnendarsteller ein unvergessliches Funkeln. Bei Dieter Wedels Nibelungen-Festspielen vor dem Dom zu Worms spielte Mario Adorf - einer der Mitbegründer des Festivals - den Hagen von Tronje, dieses mythendeutsche Inbild der plankalten Schurkerei, der rabiaten Heimtücke und des blutkühlen Mordes. Das Faszinierende trat ein: Adorf bot keine Aktion, er bewegte sich kaum, er verharrte sagenhaft mutig im Stand, er ließ sich durch Handlung nicht stören - und füllte den gigantischen Raum aus Stein und Baum und Himmel. Und gab den Hagen als einen erregend vernünftigen Politiker, dessen Motive für Untaten und Intrigen und Untergänge dicht vernäht waren mit vernünftigster, ja innigster Staatsloyalität. Das Verbrechensfähige im Rationalisten: zum Erschauern menschlich.

Heute wird der faszinierende Mario Adorf 90 Jahre alt.

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