- Politik
- Coronakrise
Glaubenskrieg erreicht die Schulen
In Thüringen gab es Drohungen gegen einen Direktor, der ein Kind ohne Maske nach Hause geschickt hatte
Wenn man bedenkt, dass Thüringens Bildungsminister Helmut Holter der Inbegriff des nordisch-unterkühlten Naturells ist - der Linke-Politiker stammt aus Mecklenburg-Vorpommern - dann hatte er gerade einen Wutanfall. Dieser Tage stattete er dem Goethe-Gymnasium im südthüringischen Ilmenau einen Besuch ab. Im Lehrerzimmer empörte er sich über »pseudowissenschaftliche Abhandlungen«, geißelte eine »Stellvertreterdiskussion«, die »völlig unangemessen« sei. Und mehrfach wiederholt er im Gespräch mit etwa einem Dutzend Lehrern: »Das geht gar nicht!«
Der Hintergrund des Ministerbesuchs ist tatsächlich ernst und nicht nur für den Chef der Bildungsverwaltung im Freistaat ein Grund zur Sorge: Nachdem sich ein Schüler der Ilmenauer Einrichtung, mutmaßlich auf Druck seiner Eltern, am Montag vergangener Woche - dem ersten Schultag nach den Sommerferien - geweigert hatte, einen Mund-Nase-Schutz im Schulflur zu tragen, hatte ihn der amtierende Leiter des Gymnasiums, Robby Krämer, des Gebäudes verwiesen und nach Hause geschickt. In Thüringer Schulen gilt die Pflicht, eine Maske zu tragen, in den Schulgängen und an Orten, wo viele Menschen auf engem Raum aufeinandertreffen, aber nicht im Unterricht.
In deutschen Schulen gelten je nach Bundesland sehr unterschiedliche Regeln. So ist das Tragen eines Mund-Nase-Schutzes (MNS) in den meisten ostdeutschen Bildungseinrichtungen nur in Fluren und an Versammlungsorten vorgeschrieben, im Unterricht und auf dem Hof nicht.
Dagegen müssen in Bayern, wo erst am Dienstag die Schule wieder begonnen hat, die knapp 1,7 Millionen Schüler*innen auch im Unterricht einen MNS tragen. Die Pflicht gilt für Kinder und Jugendliche ab der fünften Klasse, um das Ansteckungsrisiko zu senken, allerdings erst einmal nur bis Ende kommender Woche. Grundschüler dürfen die Maske dagegen abnehmen, sobald sie an ihrem Platz sitzen.
Auch in Nordrhein-Westfalen, wo die Sommerferien bereits vor vier Wochen zu Ende waren, galt zunächst eine solche Vorschrift. Doch dies wurde kurz darauf revidiert. Am Dienstag teilte Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) mit, es habe seither keine unkontrollierten Infektionen gegeben. Seit Schuljahresbeginn am 12. August hätten 99 Prozent der Schüler an regulärem Unterricht teilnehmen können. Der Anteil der Lehrkräfte, die nicht in der Schule seien, liege derzeit bei 3,3 Prozent. Das sei eine deutliche Verbesserung gegenüber dem letzten Schuljahr. Zum 2. September gab es laut Ministerium an fast 98 Prozent von weit über 4000 befragten Schulen in NRW regulären Unterricht im Klassenzimmer. Nur drei seien geschlossen gewesen, an 101 weiteren habe es Teilschließungen gegeben. dpa/nd
Nur Stunden nach seinem Eingreifen kamen bei Krämer Droh-E-Mails an. In der ersten, berichtet er, habe es geheißen, »nach der Systemwende« werde er »zur Rechenschaft« gezogen werden. In den darauffolgenden Tagen seien weitere Mails aus dem gesamten Bundesgebiet und sogar aus der Schweiz bei der Schule eingegangen, sagt Krämer, als er neben Holter vor dem Gymnasium steht. Und im Sekretariat habe es Hassanrufe gegeben.
Das Ganze habe sich schließlich so weit gesteigert, dass er am Mittwoch auf seinem Privathandy bedroht worden sei, erzählt Krämer. »Da wurde zu einem Sturm aufgerufen.« Außerdem hätten ihm Nachrichtenschreiber damit gedroht, ihm »Leid anzutun«. Das war der Punkt, an dem sich Krämer hilfesuchend an das zuständige Schulamt und an das Bildungsministerium wandte. Es sei nicht mehr möglich gewesen, diesen Vorfall schulintern zu klären, sagt der Direktor.
Minister Holter hält nicht nur den Umgang Krämers mit dem maskenverweigernden Schüler und dessen Eltern für absolut richtig und angemessen, sondern auch, dass sich der Schulleiter Hilfe gesucht hat.
Zwar handele es sich in diesem Ausmaß bei den Vorgängen - jedenfalls in Thüringen - um einen Einzelfall, sagt Holter. Doch seien in den vergangenen Tagen an mehrere Thüringer Schulen Schreiben verschickt worden, in denen die Existenz des neuartigen Coronavirus geleugnet beziehungsweise die coronabedingten Beschränkungen abgelehnt würden. Holter sagt, er gehe deshalb davon aus, dass es sich dabei um eine konzertierte Aktion von Corona-Leugnern handele. Das Thema werde deshalb auch beim nächsten Gespräch der Kultusminister besprochen werden. Das Schreiben, das an mehrere Thüringer Schulen ging, wurde von einer »Bürgerinitiative Eltern stehen auf, Regionalgruppe Thüringen« verschickt. Holter sagte, es sei nicht ausgeschlossen, dass es auch in anderen Bundesländern verschickt wurde. Darin werden Eltern nach den Hygienekonzepten an den Schulen befragt. Unter anderem heißt es darin: »Angst sollte nicht der Motivator dafür sein, unsere Kinder in gesundheitliche Einschränkungen und in psychisch soziale Krisen zu drängen.« Außerdem ist die Rede davon, dass Lehrer und Schulleitungen »drangsaliert« würden, indem ihnen bei Verstößen gegen Maßnahmen hohe Bußgelder auferlegt würden.
Derlei, so Holter, gelte es zurückzuweisen. »Für mich sind Kindergärten und Schulen geschützte Räume«, sagt er. »Die in einer Demokratie notwendigen Diskussionen über das Ausmaß der Corona-Beschränkungen dürfen nicht auf dem Rücken der Kinder und Jugendlichen ausgetragen werden.« Erst recht dürfe dabei niemand bedroht werden. »Das ist nicht nur ein Angriff auf den Schulleiter persönlich, sondern auf den Freistaat. Das geht uns alle an«, sagt Holter.
Völlig überraschend ist es nicht, dass die Auseinandersetzungen mit Corona-Leugnern - die allen Meinungsumfragen zufolge nur eine kleine Minderheit sind - nun auch die Schulen erreichen. Ebenso wenig verwundert es, dass sich Eltern gerade im Umfeld eines Gymnasiums so aufführen - also an einem Ort der höheren Bildung. Denn nicht erst die jüngste Großdemonstration gegen die Corona-Beschränkungen mit mehreren zehntausend Teilnehmern in Berlin hat gezeigt, dass neben Neonazis und Rechtspopulisten auch eher aus dem Bürgertum kommende Impfgegner, Verschwörungsideologen und Esoteriker in der Verweigererszene aktiv sind. Das zeigt sich auch an den Schreiben an die Schulen, in denen vor angeblichen Gesundheitsrisiken von Masken gewarnt wird. Zu den Unterzeichnern gehören neben zahlreichen Ärzten auch Musiker, Mediatoren, Physiker, Erzieher, Sozialarbeiter. Und Lehrer.
Der Jugendliche, der sich am Montag geweigert hatte, eine Mund-Nase-Bedeckung zu tragen, kam unterdessen am Dienstag wieder zur Schule. Mit Maske. Auch das bestärkt Holter und Krämer in ihrem Vorgehen. Falls Schüler oder Eltern das Tragen einer Maske in der Schule dauerhaft ablehnen, halten der Minister und der Direktor die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten für ausreichend. Eltern können mit einem Ordnungsgeld belegt werden, und als letztes Mittel kann die Polizei die betreffenden Kinder und Jugendlichen in die Schule bringen. Die große Mehrheit, betont Krämer indes, halte sich an die Regeln.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.