Nullzinsen für immer?
Die großen Zentralbanken Fed und EZB zweifeln an alten Weisheiten aus den Lehrbüchern und denken über neue Strategien nach
Der Euro fährt auf der Überholspur. Seit Wochen geht es gegenüber dem US-Dollar steil nach oben. Zeitweilig kostete ein Euro sogar 1,20 US-Dollar. Auslöser für die jüngste Währungsrallye war die Rede von US-Notenbankchef Jerome Powell auf der turnusmäßigen Konferenz in Jackson Hole Ende August. Powells zentrale Aussage rüttelte die Finanzwelt auf: Die Federal Reserve (Fed) werde ihr bisheriges, scheinbar in Stein gemeißeltes Inflationsziel aufgeben. Aus Sicht der Devisenhändlerinnen und -händler heißt dies: »Nullzinsen für immer«.
Die Frage ist, wie die Europäische Zentralbank (EZB) diesen Donnerstag bei ihrer Ratssitzung auf die Ankündigung aus der USA reagiert. Denn auch die europäischen Zentralbanker haben Probleme mit ihrem Inflationsziel, sogar weitaus größere als ihre Kollegen von der Fed. US-Notenbank und EZB orientieren sich wie nahezu alle Zentralbanken an einem Inflationsziel von rund zwei Prozent. Demnach soll der Preis eines Korbs mit ausgewählten Waren und Dienstleistungen ziemlich genau um die zwei Prozent im Jahr steigen. In der wissenschaftlichen Diskussion gilt eine solche Preissteigerungsrate vielen als der optimale Wert, um eine Volkswirtschaft auf Kurs zu halten. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Seit der Finanzkrise wird das Ziel immer wieder verfehlt. So stiegen die Preise in den Vereinigten Staaten im Jahr 2019 lediglich um 1,8 Prozent, aktuell liegt Inflationsrate sogar nur bei etwa 0,5 Prozent. In der Eurozone sind die Preise im August sogar leicht um 0,2 Prozent gesunken.
Powell reagierte auf die wiederholten Fehlschüsse seiner Geldpolitik mit einer Überprüfung der eigenen Strategie. Sie begann im November 2018 und ist nun offenbar abgeschlossen. Der Notenbankchef nutzte daher seine Rede auf der Zentralbankenkonferenz, die virtuell stattfand, um der großen Finanzwelt die geplanten Änderungen vorzustellen. Jackson Hole hatte schon öfters Notenbankbossen als Bühne gedient, um Kursänderungen bekannt zu geben.
Die Lehre aus den letzten Jahren: »Nach Perioden, in denen die Inflation unter zwei Prozent liegt, wird (zukünftig) eine angemessene Geldpolitik wahrscheinlich darauf abzielen, eine Inflation zu erreichen, die für einige Zeit moderat über zwei Prozent liegt.« Powell will sich dabei freilich nicht an eine »mathematische Formel« binden.
Eine solche »flexible Form der durchschnittlichen Inflationssteuerung« klingt harmlos, beinhaltet aber geldpolitischen Sprengstoff. Sollten künftig die Preise rasant steigen, würde die Fed nicht wie in der Vergangenheit eingreifen, sondern an ihrer Nullzinspolitik stoisch festhalten, möglicherweise Minuszinsen einführen. Zurzeit liegen die Leitzinssätze schon extrem niedrig bei null bis 0,25 Prozent. Das soll die Wirtschaft beflügeln, weil Kredite günstig sind, und so die Preise nach oben treiben. Es treibt aber zurzeit vor allem die Vermögenspreise für Aktien und Immobilien in nie gekannte Höhen.
Neu ist auch, dass die Fed das »höchstmögliche Beschäftigungsniveau« anpeilen will. Bislang bremste sie die Konjunktur - und damit die Beschäftigung, wenn erstere zu überhitzen drohte. Zukünftig ist die Fed bereit, den Arbeitsmarkt heiß laufen zu lassen, also Vollbeschäftigung zu akzeptieren, ohne mit höheren Zinsen gegenzusteuern. Sie wird aber schnell handeln, wenn die Konjunktur sich abkühlt.
Im Gegensatz zur Fed ist der Europäischen Zentralbank das Ziel, Arbeitsplätze zu erhalten oder zu schaffen, fremd. Die EZB steuert allein auf die Preisstabilität zu. Doch auch Präsidentin Christine Lagarde möchte jeden Stein umdrehen. Erstmals seit 2003 hat die Notenbank seit Januar ihre Strategie auf den Prüfstand gestellt. Es geht vor allem um die Inflationsrate. Diese soll eigentlich »unter, aber nahe zwei Prozent« liegen.
Doch welche Folgen könnte die neue Fed-Politik für die Überprüfung der EZB-Strategie haben? Beobachter erwarten überwiegend, dass auch die EZB einen Ansatz wählen wird, der ihr eine »expansive Politik« über einen noch längeren Zeitraum ermöglichen wird. Lediglich formal dürfte es Abweichungen zur US-Notenbank geben. So könnte die EZB ihr Inflationsziel auf glatt zwei Prozent anheben und gleichzeitig ihre Verpflichtung zur »Symmetrie« betonen - was aber eben auch bedeutete, dass zwei Prozent nicht mehr als Obergrenze gelten. In der Praxis hieße dies auch in der Eurozone: Nullzinsen für immer.
Es sind nicht allein Corona und andere Krisen, die die Notenbanken in eine Sackgasse der Nullzinsen geführt haben. Es sind auch langfristige Trends, die im Hintergrund wirken. So sinkt das Potenzialwachstum. Dieses bezeichnet das mögliche Wachstum einer Volkswirtschaft, wenn alles rund läuft. Auch das allgemeine Zinsniveau ist gesunken, weil es ein Überschuss an Kapital gibt, das nach Anlagemöglichkeiten sucht. Und noch eine Lehrbuchweisheit scheint nicht mehr zu stimmen: Der lange Aufschwung der Beschäftigung in vielen Ländern löste keinen deutlichen Anstieg der Inflation aus. Derweil sorgt sich die deutsche Wirtschaft ganz profan um den (zu) starken Euro. Denn dieser verteuert Produkte, die man in Länder jenseits des Euroraums exportieren will.
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