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Die Woche des Perfektionisten

Speerwerfer Johannes Vetter glänzt mit Weltklasseweiten am Fließband

Das Istaf war das erste internationale Großereignis in Berlin, das trotz Corona wieder mit Zuschauern stattfinden konnte. 3500 Zuschauer hatte das Gesundheitsamt Charlottenburg-Wilmersdorf zugelassen, sodass am Sonntag mit Athleten, Betreuern, Helfern und Personal insgesamt 5000 Menschen im Olympiastadion waren. Mehr sind aktuell in der Hauptstadt nicht erlaubt. Die aber kamen voll auf ihre Kosten. »So ein professionelles Hygienekonzept wie hier habe ich noch nicht gesehen. Das ist einmalig. Ich glaube, ums Istaf beneidet uns die ganze Welt«, meinte der Speerwerfer Johannes Vetter. »Für uns ist es grandios, dass wir hier sein dürfen. Es ist für die Athleten ein riesengroßes Geschenk.«

Für Vetter ging mit dem Istaf eine »traumhafte Woche« zu Ende, wie er sagte. Der »Wunderwerfer« holte sich bei diesem zumindest in der deutschen Leichtathletik einmaligen Event mit 87,26 Metern zum vierten Male in Folge den Sieg. Es war die dritte Weltklasseleistung innerhalb von sieben Tagen. »Wahnsinn!«, kommentierte der 27-Jährige. »Ich hatte nach all dem, was in dieser einen Woche passiert ist, mit einer Weite an die 85 Meter gerechnet.« Einmal mehr demonstrierte der Weltmeister von 2017 seine gegenwärtige Überlegenheit - die Konkurrenz lag fünf Meter und mehr hinter ihm. Auch mit seinen anderen fünf Würfen wäre er überlegen Sieger geworden.

Vetter hatte eine plausible Erklärung für seinen Wurf über 87 Meter parat, die auch seinen Ruf als »Perfektionist« bestätigt: »Ich wusste ganz genau, woher in diesem Stadion der Wind weht, wenn ich vom Marathontor aus Anlauf nehme: aus Südwest, also rechts hinten. Darauf habe ich mich eingestellt.«

Begonnen hatte Vetters »traumhafte Woche« genau sieben Tage zuvor, als er im polnischen Chorzow mit 97,76 Metern den zweitbesten Wurf seit Einführung des neuen Speers 1986 erreichte. Damit verbesserte er seinen deutschen Rekord gleich um 3,32 Meter und kam dem 24 Jahren alten Weltrekord des Tschechen Jan Zelezny bis auf 72 Zentimeter nahe. Am 8. September brillierte er dann in Dessau mit der immer noch starken Weite von 86,17 Meter. »97 Meter und mehr wirft man nicht dreimal die Woche. Das ist wie ein Sechser im Lotto«, sagte er fast ein wenig entschuldigend.

Die 97-Meter-Weite hatte übrigens eine besondere Geschichte: »Mir kam der harte Belag im Silesia-Stadion entgegen. Denn auf dem rutschen Speerwerfer weniger. Dadurch kann beim Abwurf die volle Kraft auf den Speer übertragen werden. Schon als der Speer meine Hand verlassen hatte, war mir bewusst, dass es ein fantastischer Wurf sein würde. Man spürt es im Körper, wenn man einen guten Wurf erwischt. Und dieser war wirklich fast perfekt. Als der Speer knapp links neben dem Kugelstoßsektor auf der anderen Seite des Stadions landete, habe ich selbst ein bisschen mit dem Kopf geschüttelt«, so der Modellathlet von der LG Offenburg.

Für Vetter, der in neue Dimensionen vorgestoßen ist, ist der Weltrekord ein realistisches Thema und längst kein illusorisches Ziel mehr. »Meine 97,76 sind in meinen Augen inoffizieller Weltrekord. Denn diese Weite wurde in einem geschlossenen Stadion erzielt, während Zelezny 1996 die 98,48 Meter in einem offenen Stadion mit Windunterstützung erreichte. Mein Wurf in Chorzow in einem offenen Stadion wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit bis über 100 Meter gegangen.«

Im Gegensatz zu vielen anderen Athleten hat Vetter die Coronakrise nicht aus der Bahn geworfen. Er trotzte dem Virus mit Weltklasseleistungen. »Ich habe diese ungewöhnlichen Zeit ohne viele Wettkämpfe genutzt, habe hart trainiert und viel an Nuancen gefeilt. Die 97 Meter in der kürzesten Saison meiner Laufbahn hat mir einen mentalen Schub gegeben«, erzählte er. Sein Heimtrainer Boris Obergföll, der übrigens Augenzeuge des Weltrekords vor 24 Jahren im Ernst-Abbe-Stadion in Jena war, glaubt, dass Vetter der Konkurrenz ein Zeichen gesetzt hat.

Nun nimmt Vetter eine Auszeit von vier bis sechs Wochen und widmet sich danach voll und ganz der Vorbereitung auf die kommende Saison, die ihren Höhepunkt in den Olympischen Spiele in Tokio finden soll. Die Verschiebung der Sommerspiele ins kommende Jahr hat seiner Motivation keinen Abbruch getan. Im Gegenteil: Er wurde noch stärker. »Das ist ein gutes Fundament fürs kommende Jahr. Mein Traum bleibt der Olympiasieg.«

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