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Flucht in den Boulevard
Hamburg wächst und sucht nach Wegen, um dem Kollaps durch steigenden Autoverkehr zu entkommen
Technische Maßnahmen genügen nicht. »Ohne Verhaltensänderung kein Erfolg«, überschreibt der Bund für Umwelt und Naturschutz BUND ein Papier zum Klimawandel. Die Coronakrise hat nicht nur den Flugverkehr zum Erliegen, sondern in den Blick gebracht, was bis dahin keine Rolle spielte: Verkehrsvermeidung. Wissenschaftler der Uni Mannheim schätzen, dass bis zu 42 Prozent der Arbeitsplätze auf Homeoffice umgestellt werden könnten. Videokonferenzen ersparen Dienstreisen. Und wer sich Waren liefern lässt, bewegt sich dabei nicht selbst.
Nicht nur im Stau stehen die Autos herum und verengen den Stadtraum. »Gut 40 Prozent der Pkw werden an einem durchschnittlichen Tag nicht genutzt«, rechnet die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock vor. »Die mittlere Betriebszeit pro Pkw und Tag liegt bei ca. 45 Minuten, dies sind nur drei Prozent der Gesamtzeit eines Tages. Es fahren immer nur etwa zehn Prozent des Gesamtbestandes gleichzeitig.« Car-Sharing ist dennoch weiterhin etwas für ökologische Enthusiasten.
Der öffentliche Personennahverkehr ÖPNV ist lediglich in den Großstädten als Alternative zum automobilen Individualverkehr etabliert. Auf dem Land, wo die Mehrheit lebt, sind einst vorhandene Bahnlinien stillgelegt worden, und die einzige Busverbindung ist oft ein Schulbus, der nur frühmorgens und nachmittags fährt. Ohne Auto ist man aufgeschmissen. Die Klimakrise macht die jahrzehntelange Vernachlässigung des ÖPNV auf dem Land deutlich, die an Verachtung grenzt. Wer den Bus benutzt, wird verdächtigt, seinen Führerschein verloren zu haben.
Immerhin könnte der Weg vom ländlichen Wohnort zur Arbeit in der Großstadt auf die Bahn verlagert werden. Der Schienenverkehr kennt zwar keinen Stau, ist aber anderweitig gestört. So sind die Pendler rund um Hamburg an regelmäßige Ausfälle gewöhnt: im Norden durch Oberleitungsschäden, im Süden durch auf die Gleise gestürzte Bäume. Dass die Züge in den Stoßzeiten überfüllt sind, schreckt außerdem vom Umstieg aus dem Auto ab.
Wie dringend eine Verkehrswende auch ohne den Druck des Klimaschutzes ist, zeigt sich in der Hansestadt, die unlängst erst vor Berlin, Wiesbaden und München zum wiederholten Mal zur »Stau-Hauptstadt« gekürt wurde. Einer Studie zufolge droht Hamburg ab 2030 der Stillstand auf den Straßen. Bis dahin wird die Einwohnerzahl auf fast zwei Millionen Einwohner gestiegen sein. Entsprechend werden sich die aktuell 350 000 Berufspendler vermehren. In zehn Jahren wird es zirka 64 000 mehr Kita-Kinder, Schüler und Studenten geben, nämlich 443 000. Und bereits jetzt werden für eine Autofahrt, die 30 Minuten dauern könnte, morgens 46 Minuten und abends 48 Minuten benötigt.
Ohne einschneidende Veränderung werden 2030 nahezu eine Million Autos in Hamburg angemeldet sein. Selbst wenn diese mit Strom angetrieben würden, blieben die Verkehrsprobleme unverändert. Den Umstieg auf das E-Auto blockiert der Mangel an Ladestationen. Dessen Effekt auf das Klima ist ohnehin überschaubar, solange der Strom nicht aus regenerativen Energien stammt.
Ein Paradeprojekt der Hamburger »Behörde für Verkehr und Mobilitätswende« ist die Osterstraße, die von 2015 bis 2017 umgestaltet wurde. Die Verkehrsschlagader des Stadtteils Eimsbüttel wurde zu Gunsten von Radwegen verengt, die Gehwege wurden verbreitert, zahlreiche Parkplätze verschwanden. Geschäftsinhaber beklagen indes einen Verlust an motorisierter Kundschaft.
»Als Privatperson finde ich den breiten Boulevard charmant, nur die Radbahnen könnten noch breiter sein, jetzt ist es dort gefährlich«, sagt die Buchhändlerin Doris Claus. Anwohnerin Melanie Offermann kritisiert: »Das Konzept, dass Verkehrsteilnehmer, Anwohner und Geschäftsleute hier gut miteinander auskommen und existieren können, ist meiner Meinung nach nicht aufgegangen. Die Ruhezonen laden mich persönlich allein aufgrund der Nähe zum Straßenverkehr nicht zum Verweilen ein.« Obwohl der breitere Gehweg für Fußgänger eine Verbesserung darstelle, habe der Stadtteil durch die neu gestaltete Straße an Charme eingebüßt, meint sie: »Mir persönlich fehlt es auch an Bäumen und Grünflächen.«
Ein Erfolg des 5,5 Millionen Euro teuren Umbaus ist bezifferbar: statt 117 gibt es nurmehr 60 Unfälle pro Jahr. Bei einer Befragung bewerteten 76 Prozent die Maßnahmen als Fortschritt für Fußgänger. Eine Verbesserung für Radfahrer sahen dagegen nur 41 Prozent, 45 Prozent erkannten eine Verschlechterung. Dirk Lau, Sprecher des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs ADFC, fordert deshalb: »Das Kerngebiet Eimsbüttel muss verkehrsberuhigt werden, die Osterstraße zur Geschäftsstraße mit Tempo 20 und gesperrt für den Kfz-Durchgangsverkehr.«
Das befürchtete Parkplatzchaos ist nach dem Wegfall von 110 Stellplätzen nicht eingetreten. 13 Prozent der Einkaufsbummler kommen mit dem Auto, 34 Prozent nehmen das Rad, 13 Prozent die U-Bahn oder den Bus. Die Mehrheit von 38 Prozent kommt zu Fuß. »Das ist eine höhere Quote als üblicherweise im Bundesgebiet«, betont Kay Gätgens, der Bezirksamtsleiter von Eimsbüttel.
Die Präsidentin der Architektenkammer Karin Loosen lobt das »sehr schöne Projekt«. Der Stadtentwicklungsexperte Jürgen Tietz empfiehlt die Umgestaltung der Einkaufsmeile sogar als »Blaupause für Straßenplanung«. Zwar findet Tietz, dass sich lokale Einkaufsstraßen nur »begrenzt als doktrinär aufgeladene Kampfzonen der Stadtplanung eignen«, doch die Osterstraße sei ein gelungener Kompromiss der Interessen von Fußgängern, Rad- und Autofahrern. Sie besteche durch ihr »Straßenflair« und ihre »Aufenthaltsqualität«.
Verhaltener reagiert Verkehrsplanerin Philine Gaffron: »Die Maßnahmen sind teilweise durchaus umstritten. Eine Zeit lang wurde dort sogar darüber nachgedacht, eine Begegnungszone einzurichten, in der alle Verkehrsteilnehmenden gleichberechtigt unterwegs sind und die auf Aufmerksamkeit und gegenseitiger Rücksichtnahme basiert.« Minimalinvasive Eingriffe in die Mobilitätsstruktur wie Dieselfahrverbote hier und Fahrradhäuschen dort reichen für eine Wende ebenso wenig aus wie eine massive Stärkung von ÖPNV und Radverkehr. Unabdingbar ist eine drastische Einschränkung des Autoverkehrs.
Im Wahlkampf stellte Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) zusammen mit dem Hamburger Verkehrsverbunds HVV den »Hamburg-Takt« vor. Das auf zehn Jahre angelegte Konzept sieht vor, den ÖPNV durch Taktverdichtungen, Serviceverbesserungen und Streckenverlängerungen attraktiver zu machen. Eine U-Bahn soll neu gebaut, eine zweite sowie S-Bahn-Strecken verlängert, zusätzliche Buslinien und Haltestellen geschaffen werden. Damit soll sich das Fahrgastaufkommen in Bussen und Bahnen um 50 Prozent erhöhen. 750 emissionsfreie Busse sollen den Bestand von derzeit 1500 erweitern. Außerdem vorgesehen sind On-Demand-Shuttles und Car-Sharing-Angebote.
Während der rot-grüne Senat das Vorhaben als großen Wurf präsentiert, meldet die Opposition Zweifel an. Zu einer »echten Mobilitätswende« gehören für den CDU-Politiker Marcus Weinberg ein 365-Euro-Jahresticket, pünktlichere Busse und Bahnen - sowie die »MetroTram«, für die sich auch die linke Verkehrsexpertin Heike Sudmann ausspricht. Dabei handelt es sich um die Straßenbahn, die 1978 abgeschafft wurde, um den Autos Platz zu machen.
Die Grünen setzen auf autofreie Zonen. »Es geht um Aufenthaltsqualität. Dafür muss man Plätze neu gestalten«, betont die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne). In Ottensen, einem Stadtteil, der seit den 1980ern ein Multikulti-Image hat, wurde damit angefangen: Blumenkübel auf der Fahrbahn, mit Plastiktüten abgedeckte Verkehrsschilder, Flanierende auf Kopfsteinpflaster. Doch das Verwaltungsgericht stoppte das Pilotprojekt auf Antrag von Gewerbetreibenden vorerst. Trotzdem sollen demnächst die Autos vom Jungfernstieg im Zentrum verschwinden.
Für FDP und AfD müssen die Autos wie gehabt am besten überall rollen - wenn sie es denn können. Die CDU moniert eine »systematische Parkplatzvernichtung«. Sie will attraktivere Angebote für Pendler und »Staus schon vor den Stadttoren stoppen«. Umstritten ist ebenfalls die Propagierung des Radfahrens. »Hamburg wird Fahrradstadt - wie gaga ist das denn?«, sagt der AfD-Verkehrspolitiker Detlef Ehlebracht und sieht »Ideologie« am Werk. »Radfahren ist ein Schlüssel zur Verkehrswende«, betont dagegen Bürgermeisterin Fegebank. Doch der Anspruch ist nicht die Wirklichkeit. Jährlich 50 Kilometer neue Radwege hatten Grüne und SPD in ihrem ersten Koalitionsvertrag von 2015 angekündigt. Es wurden zwischen 31,8 und 43,5 Kilometer.
Es gebe keine »Vorzeigestadt« für die Mobilitätswende, meint die Verkehrsexpertin Philine Gaffron, aber nachahmenswerte Beispiele: »In Städten wie Frankfurt und Dresden sind die Menschen besser mit schienengebundenem Nahverkehr versorgt. In Bremen oder Münster gibt es eine deutlich bessere Infrastruktur für Fahrräder. Freiburg setzt schon länger auf klare Vorgaben für Fahrradabstellplätze im Wohnungsbau, im Verkehrsverbund Rhein-Ruhr gibt es mit dem Ticket2000 eine übertragbare Monatskarte.«
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