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Nur nicht hängen lassen!
Im Schwarzwälder Kinzigtal fliegt man über den Wald und übernachtet dort.
Start ist an Tanne Nummer eins, das Ziel soll ebenfalls eine Tanne sein, die der Passagier aber gar nicht sieht. Dazwischen: 570 Meter Schwarzwald, kein Netz, kein doppelter Boden. Unten nur Bäume, oben nur ein Stahlseil, in das man per Sitzgurt eingeklinkt ist. 30 Sekunden Flug mit 60 Stundenkilometern. Manche kreischen, wenn sie starten - und jubeln, wenn sie drüben ankommen. Andere sitzen blass in ihrem Gurt, heben irgendwann doch ab und kugeln sich im Flug zusammen, als wollten sie ihren Magen schützen. Als wir an der Reihe sind, haben wir uns noch keine Taktik zurechtgelegt. Unser Guide Georg Stefanovic hat den Countdown gestartet: 60, 59, 58, 57, ....
Stefanovic hat so schon Tausende Male runtergezählt. Schließlich hat er die Zipline-Anlage 2012 begründet und nach dem Hirschgrund benannt, den man hier in Sekunden überfliegt. Auf der Karte muss man den Flecken lange suchen. Kinzigtal, Heubachtal, Hirschgrundtal: ein Neben-Neben-Tal, geografisch ziemlich genau in der Mitte des Schwarzwalds. Straßennamen gibt es hier nicht; wer sich orientieren will, muss die Namen der Höfe kennen. Einige Bauern bieten Reitferien für Kinder an. Die meisten leben aber von der Forstwirtschaft. Im statistischen Mittel besitzt jeder Kinzigtaler eine Waldfläche so groß wie zwei Fußballfelder. »Wir können gut mit den Bauern«, sagt Stefanovic, der die Landwirte von seiner Zipline-Idee überzeugen konnte. »Die waren auch schon hier oben, weil sie unbedingt über ihre Bäume hinwegfliegen wollten.«
Nicht alle sind heute so mutig. Wenn man hier in den Startlöchern steht, die Füße gerade noch am Boden, kann man schon weiche Knie kriegen. Das straffe Seil des Sitzgurts versucht ständig, einen in die Höhe zu ziehen. Es ist eine Portion Kraft nötig, um dagegen anzukämpfen. Im Kopfkino spielen sich irre Szenen ab: um sich schlagende Äste. Passagiere, die ungebremst in einen Baum donnern und solche, die auf halber Strecke stehen bleiben und einen Rettungseinsatz benötigen. »Wir hatten noch keinen Unfall, und alle sind heil drüben angekommen«, sagt Stefanovic. Gleichwohl beruhigt es kaum. Und weil das Positivdenken nicht funktioniert, bleibt einem als Ausflucht nur Ablenkung, zum Beispiel Erinnerung an die zurückliegenden Ferientage im Kinzigtal.
Schließlich ist dieser Schwarzwald-Trip als Action-Urlaub angelegt - mit Zipline als krönendem Abschluss. Folglich ein paar Worte zum Thema Mountainbike, das überraschend unterhaltsam war. Das Wegenetz ist groß, die Anstiege teils so steil wie in den Alpen. Sammeln von Höhenmetern ist kein Problem. Der Unterschied liegt natürlich darin, dass es den ganzen Tag Hügel rauf, Hügel runter geht. Wer lange Anstiege am Stück gewohnt ist, muss sich umstellen und das ständige Auf und Ab als neue Trainingsherausforderung annehmen. Klimatisch ist der Biker ohnehin im Vorteil, denn die Temperaturunterschiede zwischen den Gipfel- und Tallagen sind gering, alpine (Wetter-)Gefahren nie in Sicht. Einzig die Sache mit dem Ausblick ist so ein Ding: Gipfel, die die Sicht auf Vogesen oder gar auf die Schweizer Alpen freigeben, sind rar gesät, weil eben überall Bäume stehen.
Womit wir wieder bei jenen Exemplaren wären, die jetzt eben vor unserer Nase stehen. Tannen, Eschen und Fichten versperren uns die Sicht im Startblock. Vom 570 Meter langen Stahlseil sind nur sieben oder acht Meter zu sehen, weil sich dann ein Blätterdach darüberlegt. Dann meldet sich per Funk wieder die Stimme von Stefanovic, der bereits auf der anderen Seite steht und wartet, den nächsten Flieger in Empfang zu nehmen: »drei, zwei, eins ...«
In den letzten Sekunden vor dem Start versucht der Passagier, sich auf seine Stärken zu konzentrieren. Geht im Kopf Fahrgeschäfte von Freizeitparks durch, die er überstanden hat, redet sich ein, dass alles halb so schlimm kommt wie befürchtet. Und dann landet man bei der finalen Trumpfkarte, die man jetzt ausspielt, um die Nervosität in den Griff zu kriegen: das Hängezelt, die Nacht über den Wipfeln, hier im Wald. In der Dämmerung röhrten die Hirsche, als der Vollmond in voller Pracht stand, waren nur noch der Bach und die Rufe eines nachtaktiven Tieres zu hören, das nicht zu identifizieren war. Morgens pickte ein Vogel am Reisverschluss. Oder war es doch ein Eichhörnchen? In jedem Fall war die Übernachtung mutig: Das rote Zelt hing 30 Meter über dem Boden, der Wind schaukelte es hin und her. Auf den Baumspitzen saßen neugierige Spatzen und lugten ins Zelt, während der Schlafgast eine ganze Weile brauchte, bis er es wagte, sich an den Rand zu setzen und die Beine in die Tiefe baumeln zu lassen. Klar, man ist dort stets per Sitzgurt zusätzlich gesichert. Aber nachts mit Gurt zu schlafen ist schwierig. Irgendwann zieht man das Ding doch aus und vertreibt die dunklen Gedanken, das Zelt könnte doch in die Tiefe stürzen. Wer ein Klo benötigt oder festen Boden unter den Füssen will, muss sich per Seil erst zum Hang ziehen, das schaukelnde Zelt kontrollieren und auf den Holzsteg steigen.
Letztlich war der Schlaf nicht besonders tief oder erholsam, aber die Erfahrung grandios. Mit den Hirschen zu Bett gehen, mit den Vögeln aufwachen. Dort, wo kein Mensch sonst hinkommt. Wer das überstanden hat, wird doch auch einen 30-Sekunden-Ritt über die Bäume schaffen, ohne dass das Herz in die Hose rutscht.
»... und los geht’s!«, ruft es aus dem Walkie-Talkie. Abstoßen, fliegen. Es ist ein merkwürdiges Gefühl. Im ersten Moment wehrt sich der Körper mit aller Macht dagegen. Die Kehle schnürt die Luft ab, man hört für einige Sekunden auf zu atmen. Der Puls schnellt hoch, das Rauschen des Blutes sorgt für pochende Ohren, und der Magen sendet ein Kribbeln aus, das sich wie das Gegenteil von Hunger anfühlt. Auf den ersten Metern ist es sich ein bisschen wie in der Achterbahn, nur dass der Hintern hier nicht in einem bequemen Polster sitzt, sondern in der Luft hängt und von oben kein Sicherheitsbügel drückt. Jetzt aber nicht hängen lassen!
Und siehe da: Sobald man sich traut und loslässt, Sorgen und Ängste einfach in den tiefen Wald wirft, durchströmen Glückshormone den Körper. Man gewinnt Sicherheit, hat Zeit, nach oben, nach links, nach rechts zu schauen. Besonders spektakulär ist aber der Blick nach unten. Die Perspektive verändert alles: Die Bäume sehen nicht mehr aus wie Riesen, die lange Schatten werfen. Ihre Spitzen und Kronen bilden Sterne, Äste und Zapfen recken sich nach dem Licht, das die unterschiedlichsten Grüntöne hervorzaubert. Man wünscht sich, der Flug möge nie aufhören. Und plötzlich ist es schon vorbei. Landung an der Tanne und nur eine Frage: Wo ist die nächste Zipline?
Tipps
Anreise
Mit dem Auto über die A5 Karlsruhe – Basel, Ausfahrt Offenburg/Kinzigtal auf die B 33 in Richtung Villingen-Schwenningen. Anreise mit dem ICE oder Regionalzügen bis Offenburg. Von dort mit der Regionalbahn, der Schwarzwaldbahn oder mit dem Bus ins Kinzigtal
Übernachten
Boutique-Hotel Adler: exzellente Küche, großzügige Zimmer/Studios. Keine Buffets, auch Frühstück (traditionell) serviert. DZ ab 130 Euro. www.adler1604.com
Naturträume: 2 Schlafplätze im Hängezelt inkl. Vesperkorb für Abendessen und Frühstück für 165 Euro pro Person. www.naturtraeume.de
Zipline:
Die längste der sieben Bahnen überwindet eine Distanz von 570 Metern. Maximale Höhe über dem Waldboden: 83 Meter. Ausrüstung: feste Schuhe, ggf. Regenkleidung. Helm, Gurt und Tagesrucksack für persönliche Gegenstände (Getränke usw.) inklusive. Handschuhe sind nicht nötig. Preise: 44 Euro (wochentags), 48 Euro (Wochenende und Feiertage). Gruppen: ab 45 Euro pro Person. Ab 12 Jahren/40 Kilo. Reservierung vorab (Tag und Uhrzeit) auf der Homepage obligatorisch. www.hirschgrund-zipline.de
Die Recherche wurde unterstützt von der Tourismus Marketing GmbH Baden-Württemberg.
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