Wo Picasso seine katalanische Mona Lisa malte

In drei katalanischen Dörfern lebte der Kubist seine Landlust aus. Auf einer Tour kann man sich von ihrer inspirierenden Wirkung überzeugen

  • Ulrike Wiebrecht
  • Lesedauer: 7 Min.
Unter den mittelalterlichen Arkaden von Horta de Sant Joan schlenderte auch schon Pablo Picasso mit seiner Partnerin Fernande Olivier.
Unter den mittelalterlichen Arkaden von Horta de Sant Joan schlenderte auch schon Pablo Picasso mit seiner Partnerin Fernande Olivier.

Horta de Sant Joan, Gósol, Cadaqués: Böhmische Dörfer? Nein, katalanische. Das eine liegt im Weinland, das andere im Gebirge und das dritte an der Küste. So unterschiedlich sie sind, alle drei haben den jungen Pablo Picasso so nachhaltig inspiriert, dass sie aus seiner Malerei nicht wegzudenken sind. »Alles, was ich kann, habe ich in Horta gelernt«, sagte er selbst über einen der Orte. Grund genug, sie sich einmal anzusehen und einen der weniger bekannten Teile Kataloniens zu erkunden.

Von Barcelona führt der Weg nach Südwesten durch die zerklüftete Landschaft des Priorat, wo die Reben für einige der edelsten Weine Spaniens wachsen. Dann geht es weiter in die Terra Alta. Mandel- und Olivenbäume übersäen die rotbraune Erde. Schließlich taucht der Berg Santa Bàrbara auf, das Wahrzeichen von Horta de Sant Joan.

Am Ortseingang stehen unverputzte Neubauten, über der Straße hängen notdürftig befestigte Stromkabel. An der Plaça Catalunya, dem neuen Ortszentrum, sind die Terrassen der Bars gut gefüllt, das Stimmengewirr ist unüberhörbar. Im historischen Kern des Städtchens rund um die Plaça de l’Església herrscht dagegen Totenstille. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein, seitdem Picasso 1909 hierherkam. Das Haus, in dem sich früher das Hostal del Trompet befand, steht noch immer neben den mittelalterlichen Arkaden. Damals sollen Frauen aus dem Ort aus Protest Steine an das Fenster geworfen haben, als der Maler hier mit seiner Geliebten Fernande Olivier in wilder Ehe lebte.

Viele solcher Anekdoten ranken sich um Picassos Aufenthalt in Horta. »Wenn er nicht malte, gingen er und Fernande ins Café und spielten mit den Dorfbewohnern Domino«, erzählt Elias Gaston, der das Centre Picasso in einem ehemaligen Krankenhaus aus dem 16. Jahrhundert leitet. Und dass die attraktive Pariserin mit ihren bunten Schals für viel Aufsehen sorgte. Das erste Mal war Picasso 1898 bereits als Sechzehnjähriger in Horta. Krank und deprimiert war er von Madrid nach Barcelona zurückgekommen, ohne zu wissen, wie es nach dem abgebrochenen Kunststudium weitergehen sollte. Da kam ihm die Einladung seines Freundes Manuel Pallarès gerade recht, ihn in dessen Heimatdorf zu begleiten. Aus ein paar Sommerwochen wurden acht Monate, die den jungen Pablo völlig veränderten.

Schon die Anreise wird für ihn zur Offenbarung. Von Tortosa aus müssen er und sein Freund vierzig Kilometer durchs Ebro-Tal wandern. So anstrengend es ist – der junge Pablo ist total fasziniert. »Sein ganzes Leben lang sah Picasso diesen Aufstieg in die Sierra – die Wildwasser, die sie überqueren mussten, die hoch droben in der Luft kreisenden Adler, die im Wald wühlenden Wildschweine, die fast hörbare Stille des Hochlands – in goldenem Licht«, schreibt der Picasso-Experte John Richardson.

Im Dorf angekommen, erkunden Manuel und Pablo die Gebirgsregion Els Ports mit den tausend Meter hohen Gipfeln und tiefen Schluchten. Heute lockt das Gebirge mit behutsamem Ökotourismus. Damals war es weitgehend unerschlossen. Was die jungen Künstler nicht davon abhält, sich mit Leinwänden und Staffeleien auf den Weg zu machen und für mehrere Wochen in einer Höhle zu leben. Morgens bereiten sie sich ein herzhaftes Frühstück aus Reis, Bohnen, Stockfisch und Kichererbsen, danach geht jeder an die Arbeit. Bald entsteht eine ganze Serie von Picasso-Zeichnungen mit Bäumen, Hirten und Ziegen und dem Bauernhof Mas del Quiquet, der ebenso wie die Höhle die Zeit überdauert hat.

Die jungen Künstler führen ein einfaches, glückliches Leben. Später wird Pablo von den reinsten Empfindungen schwärmen, die diese Zeit prägen. Und er wird sein ganzes Leben lang das Messer aufbewahren, das er hier zum Schneiden von Brot, Wurst oder Holz benutzt hat. 1909 kommt er noch einmal nach Horta, um sich nach dem Vorbild von Cézannes Montagne Sainte Victoire an der Muntanya Santa Bàrbara abzuarbeiten. Er befindet sich mitten im Abenteuer des Kubismus, dekonstruiert die Formen des Berges, um sie neu zu ordnen und mit dem Kopf der Geliebten zu verschmelzen. Was dabei herauskam, zeigen die Faksimiles seiner Werke im Centre Picasso.

Eigentlich wollte Picasso schon 1906 nach Horta zurückkehren. Doch aus irgendeinem Grund fiel die Entscheidung dann auf Gósol, ein Gebirgsdorf, das dreihundert Kilometer weiter nördlich in den Pyrenäen liegt. Wieder macht er eine tiefe Krise durch. Monatelang hatte er sich in Paris am Porträt seiner Mäzenin Gertrude Stein abgearbeitet, es will ihm nicht gelingen. Jetzt braucht er neue Inspiration. Ende Mai fährt er mit Fernande erst nach Barcelona und von dort weiter in die Pyrenäen. In Guardiola de Berguedà angekommen, setzen die beiden den achtstündigen Weg mit einem Esel und Maultiertreiber fort. Heute braucht man für die Strecke mit dem Auto gerade mal eine halbe Stunde. Wobei man versucht ist, immer wieder anzuhalten, weil die Landschaft nach jeder Kurve atemberaubender wird.

Tipps
  • Anreise: Ausgangspunkt für die Grand Tour ist Barcelona, das von Berlin aus Vueling, Easyjet und Ryanair anfliegen. Horta de Sant Joan, Gósol und Cadaqués sind mindestens einmal täglich in jeweils drei bis vier Stunden mit Bussen, z. T. auch direkt vom Flughafen aus zu erreichen (www.hife.es, www.alsa.com, www.moventis.es). Wesentlich einfacher ist es mit Leihwagen.
  • Sightseeing: In Horta de Sant Joan und Gósol zeigen die Centre Picasso genannten Museen die dort entstandenen Werke des Künstlers (www.centrepicasso.net, www.elbergeda.cat). In Cadaqués gibt es kaum Spuren von Picasso. Stattdessen begegnet man auf Schritt und Tritt seinem Fan Salvador Dalí, der hier jahrzehntelang lebte und dessen Anwesen als Museum zugänglich ist (www.salvador-dali.org). Unbedingt sehenswert ist hier der Naturpark Cap de Creus mit seiner bizarren Landschaft an der östlichsten Spitze Spaniens. Alle drei Picasso-Orte sind auch ideal zum Wandern. Gute Ergänzung – falls man sich in Barcelona aufhält, ist das dortige Museu Picasso (www.museupicasso.cat). Alle weiteren Informationen unter www.turismehortasantjoan.cat, www.elbergeda.com, www.visitcadaques.org sowie www.katalonien-tourismus.de

Auf 1400 Metern schmiegt sich Gósol in die Gebirgslandschaft des Naturparks Cadí-Moixeró mit markanten Gipfeln wie dem Pedraforca, der mythenumwobenen Steingabel. Der Ort selbst wirkt mit seinen archaischen Steinhäusern wie aus der Zeit gefallen. In der Mitte grüßt die »Dona dels Pans«, die »Brotträgerin« am Brunnen, eine Hommage an Picassos Gemälde – die sogenannte katalanische Mona Lisa, die hier entstand. Ein Stück weiter steht auch noch die frühere Pension Cal Tampanada, in der das Paar unterkommt.

Picasso freundet sich mit dem hochbetagten Wirt des Cal Tampanada an, spielt mit den dortigen Schmugglern Karten und taucht ganz und gar ins Dorfleben ein. Die Unbeschwertheit, die den Aufenthalt kennzeichnet, überträgt sich auch auf die hier entstandenen Werke. »Sobald er in seine Heimat und besonders aufs Land zurückkehrte, durchströmte ihn dessen Ruhe und Heiterkeit. Das machte seine Werke leichter, luftiger, weniger gequält«, schreibt Fernande Olivier rückblickend. Tatsächlich sind im frisch renovierten Centre Picasso von Gósol Faksimiles von Werken in hellen Ocker-, Rosé- und Terrakotta-Tönen zu sehen, die auf eine heitere Grundstimmung des Malers schließen lassen.

Wobei Picassos Kunst in Gósol eine tiefgreifende Metamorphose durchmacht. Anfangs malt er noch Akte, die an Vorbilder der klassischen Antike erinnern. Dann experimentiert er immer freier mit Formen, die zum Primitivismus tendieren. Die Gesichtszüge erinnern oft an die Holzfigur der sitzenden Jungfrau aus dem 12. Jahrhundert, die damals in der Kirche von Gósol stand. Und die großen Augen mit dem starren zur Maske gefrorenen Blick kennzeichnen fortan viele seiner Werke. Nicht zuletzt die »Demoiselles d’Avignon«, das erste Meisterwerk der Moderne, das bald darauf in Paris entsteht. »Als Picasso Ende Mai 1906 nach Gósol kam, war er ein Maler des 19. Jahrhunderts; als er zwölf Wochen später wieder abfuhr, trug er die Stränge der Moderne in seinen Leinwänden eingerollt mit sich fort«, ist die Kunstexpertin Jèssica Jaques Pi überzeugt.

Diese zarten Anfänge des Kubismus wird der Künstler 1910 in einem anderen katalanischen Dorf zur Vollendung führen. Dieses Mal fällt die Wahl auf Cadaqués an der nördlichen Costa Brava. Heute steht der hübsche Küstenort ganz im Zeichen von Salvador Dalí, der hier jahrzehntelang lebte. In dessen Gefolge hat sich eine kleine kosmopolitische Künstler-Community etabliert, im Sommer jagt eine Vernissage die andere. An Picasso erinnert lediglich eine ausgeblichene Gedenktafel.

Damals brauchte er wieder eine Auszeit vom Kunstbetrieb der französischen Metropole und folgt seinem Künstlerfreund Ramon Pitxot, dessen Familie in Cadaqués ein Sommerhaus hat. »Je suis le roy de la boullavaise«, schwärmt er bald in seinem holprigen Französisch in einem Brief an Guillaume Apollinaire – und meint den katalanischen Fischeintopf Suquet des Peix, der hier auch heute noch köstlich mundet. Gleichzeitig arbeitet er hoch konzentriert an der Weiterentwicklung des Kubismus. Während viele Maler das Bilderbuchdorf mit den strahlend weißen Häusern in heiteren Pastelltönen auf Leinwände bannen, dominieren bei Picasso düstere Braun- und Grautöne. Außerdem schwarze Linien, die ins Leere streben. Alles wirkt kalt, destruktiv und so verstörend, dass selbst die Freunde in Paris irritiert sind. Picassos Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler fragt sich gar, ob der 28-Jährige verrückt geworden ist.

Doch ohne die Fundamente, die er in den wenigen Monaten am Meer gelegt hat, kann man die zeitgenössische Kunst nicht verstehen, ist sich der Kunstkritiker Ricard Mas sicher: »Cadaqués verkörpert ›die weiße Stille‹ des Kubismus. Ein trügerischer Spiegel, denn unter der flachen, glatten Oberfläche der Leinwände spielen sich wahre Dramen ab.« Die sind inzwischen ausgestanden. Heute sitzen die Leute wie eh und je auf der Terrasse der Marítim-Bar, blicken mit einem Glas Rosé in der Hand auf die malerische Bucht am Mittelmeer, an der sich gerade wieder irgendein junger Künstler abarbeitet. Unzählige Male verewigt und immer wieder jungfräulich schön!

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