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Beinahe ein Friedensvertrag
Der ehemalige DDR-Staatssekretär Hans Misselwitz erinnert sich an das Jahr 1990, an die Verhandlungen mit der Bundesregierung und den Siegermächten vor der Vereinigung
Herr Misselwitz, Sie waren ab März 1990 als Staatssekretär im Außenministerium Teil der letzten DDR-Regierung. Wie viel Autorität hatte diese denn überhaupt noch?
Die Autorität einer Regierung leitet sich davon ab, inwieweit sie Unterstützung in der eigenen Bevölkerung hat. Und die war von Anfang an nur auf Zeit gegeben. Trotzdem gab es damals auf allen Gebieten hohe Erwartungen, die sich in der Volkskammer und in gesellschaftlichen Debatten niederschlugen. Einerseits erwartete man schnelle Veränderungen in Richtung Angleichung West, andererseits, dass wir gegenüber der westdeutschen Seite bestimmte Punkte durchsetzten; etwa in der Frage der Festschreibung der Bodenreform, der Zukunft des Gesundheitswesens, der Kultureinrichtungen oder der Frauenrechte und des Paragrafen 218. Mit der Zeit entwickelte es sich dann so, dass die Handlungsspielräume - und auch die Widerstandsspielräume - immer geringer wurden.
Der Theologe und promovierte Biologe Hans Misselwitz war viele Jahre in der kirchlichen Friedensbewegung der DDR aktiv. Im März 1990 für die Sozialdemokraten in die Volkskammer der DDR gewählt, war er parlamentarischer Staatssekretär im Außenministerium und leitete die DDR-Delegation bei den Zwei-plus-Vier- Gesprächen. 1991 bis 1999 war er Leiter der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung in Potsdam und bis zu seiner Pensionierung 2015 im Parteivorstand der SPD tätig.
Misselwitz ist Gründungsmitglied des Instituts Solidarische Moderne. Karsten Krampitz sprach mit ihm über die Rolle der letzten DDR-Regierung und die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen.
Foto: privat
Begegnete man Ihnen von westdeutscher Seite in dieser Zeit auf Augenhöhe?
Wir hatten zumindest angenommen - man sprach ja von Brüdern und Schwestern -, dass man sich gegenseitig ernst nimmt. Auch deswegen, weil das Hinweggehen über erklärbare, begründete Interessen der DDR-Bevölkerung auf lange Sicht dazu führen müsste, dass die Vereinigung nur schwer gelingen konnte. Das war die Idee: Wir müssen Bedingungen schaffen, die dafür sorgen, dass zumindest die Interessen einer Mehrheit der Bevölkerung in die Verhandlungen über die Vereinigung eingebracht werden.
Aber noch mal konkret gefragt: Hat die Kohl-Regierung Sie als gleichwertigen Gesprächspartner gesehen?
Auf bestimmten Feldern gab es das. Zum Beispiel im Bereich der Sozialpolitik hat es Regine Hildebrandt geschafft, im Zusammenspiel mit Norbert Blüm, gegen großen Widerstand wesentliche Elemente des westdeutschen Sozialgesetzbuchs zu übernehmen, zu überschreiben, gewiss mit Abstrichen, Befristungen und Lücken.
Und außenpolitisch?
Da gab es Übereinstimmungen im Grundsatz, aber eine gemeinsame Augenhöhe letztlich schon dadurch nicht, dass bereits in den Monaten zuvor Entscheidungen fielen, in die wir gar nicht einbezogen waren. Differenzen gab es von Anfang an etwa beim Umgang mit der Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze und zwar ohne Vorbedingung. Hier waren wir uns aber mit den Polen einig und hatten auch die Unterstützung Frankreichs, Großbritanniens, der Sowjetunion und der USA bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen.
Hat denn die Bundesregierung den DDR-Staat, wenigstens als er im Sterben lag, anerkannt?
Das mit dem Sterben ist so eine Sache. Das Wahlergebnis vom 18. März zur Volkskammerwahl der DDR wurde als klare Entscheidung für die deutsche Einheit ausgelegt, als ein Akt freier Selbstbestimmung und ein Mandat für die gewählte Regierung. Unabhängig davon, wie sich die Wähler und Wählerinnen in der DDR die Vereinigung genau vorstellten, war das ein Auftrag an Parlament und Regierung. Wer die Einheit herstellen wollte, musste sie mit der DDR herstellen und die DDR und ihre Vertretungen anerkennen. Ohnehin hatte die Bundesrepublik die DDR bereits völkerrechtlich de facto anerkannt, zum Beispiel als sie gemeinsam mit ihr in die UNO aufgenommen wurde, und zwar unabhängig davon, ob sie weiter an dem Vorbehalt der Wiedervereinigung festhielt. Mit der Teilnahme der DDR an den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen und der gemeinsamen Unterschrift unter dem Vertrag im September ’90 war die Anerkennung Realität. Wie es in der Praxis lief, ist eine andere Geschichte.
Warum taucht eigentlich in jenem Zwei-plus-Vier-Vertrag nicht ein einziges Mal das Wort »Friedensvertrag« auf?
Das war eine Position der Bundesregierung, die allerdings auch im Interesse der USA lag. Die USA wollten eine Friedenskonferenz vermeiden, in der ihr Hauptinteresse, die Nato-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands, ein Punkt unter vielen wäre und zur Verhandlungsmasse werden könnte. Die Bundesregierung befürchtete, dass ein Friedensvertrag die ehemaligen Kriegsgegner Deutschlands, also über fünfzig Staaten, einladen könnte, alte Reparationsforderungen auf den Tisch zu legen, die sie seit dem Londoner Schuldenabkommen von 1953 bis zu einem Friedensvertrag zurückgestellt hatten. Stattdessen wurde dann 1990 den in der KSZE vertretenen Staaten eine Deklaration vorgelegt, die die Beendigung der deutschen Teilung erklärt und begrüßt.
Aber im Grunde war es doch ein Friedensvertrag, oder nicht?
Letztlich war es eine Art Friedensvertrag, allerdings nur zwischen den vier Siegermächten und den beiden deutschen Staaten. Der Nachkriegszustand, dessen Hüter die Siegermächte waren, musste beendet werden. Und wenn man genau hinschaut, sind in dem Zwei-plus-Vier-Vertrag wesentliche Zielvorstellungen des Potsdamer Abkommens abgearbeitet: die »vier Ds«, die da hießen: Denazifizierung, Demilitarisierung, Dezentralisierung und Demokratisierung. Die Demilitarisierung wurde so verstanden, dass sich Deutschland zu Truppenobergrenzen verpflichtet, zur Absage an Atomwaffen und Massenvernichtungsmittel und die Friedenspflicht im Grundgesetz verankert bleibt.
Deutschland muss also Frieden halten.
Ein Aggressionskrieg ist verboten durch Artikel 26 des Grundgesetzes. Das heißt, wer einen solchen vorbereitet, muss mit allen Mitteln daran gehindert werden.
Und was ist mit der Bombardierung Belgrads 1999?
Versuche, dagegen zu klagen, hat es gegeben. Dagegen wurde eine Bündnisentscheidung ins Feld gebracht: Die Deutschen handelten nicht in alleiniger Entscheidung, sondern im Zusammenhang eines kollektiven Verteidigungsbündnisses im Sinne der Friedenserhaltung. Völkerrechtlich war das eine ziemlich willkürliche Konstruktion.
Noch mal zu Zwei-plus-Vier: Es ging gewissermaßen um die Entlassung der Deutschen aus der »Kriegsschuld«, aber nicht um Reparationen. Der Vertrag selbst ließ die Frage offen?
Die wurde gar nicht erwähnt. Im Zwei-plus-Vier-Vertrag ist keine Rede von der historischen Verantwortung der Deutschen. Null! Als DDR-Verhandlungsgruppe haben wir solche Vorschläge gemacht, wenigstens für die Präambel. Stattdessen beginnt sie: »Im Bewusstsein, dass ihre Völker seit 1945 miteinander in Frieden leben«. Man hat alles weggelassen, was einen Hinweis darauf gäbe, dass im Vertrag ein wesentliches Thema ausgelassen worden wäre. Keine Rede von deutscher Kriegsschuld, auch nicht über den Umgang mit Reparationen. Oder von der fortwirkenden Last der deutschen Vergangenheit im Gedächtnis der Völker. Das Schweigen darüber bedeutet, dass sie uns bleibt. Die Geschichte holt uns natürlich ein. In einigen Fällen ist dann auch etwas passiert, zum Beispiel die Entschädigungen für die Zwangsarbeiter.
Aber damit war die Reparationsfrage doch nicht beantwortet.
Im November 1990 wurde in der »Charta von Paris« die allgemeine Friedensordnung in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges beschlossen. Man sagt heute, dass diejenigen KSZE-Staaten, die dieser Erklärung damals nicht widersprochen haben, damit ein für alle Mal auf deutsche Reparationen verzichtet haben. Die Frage der Reparationen für die erlittenen Opfer und Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg ist aber nicht vom Tisch. Das war ein Irrtum, wie man am Umgang mit Griechenlands Schulden oder aktuell an Polen sehen kann.
Anderthalb Monate vor der Wiedervereinigung zerbrach damals die Koalition der Regierung Lothar de Maizière. Warum?
Es gab einen Konflikt im Zusammenhang mit den Verhandlungen zum Einigungsvertrag. Walter Romberg, der SPD-Finanzminister, hatte im Blick auf die Finanzausstattung der künftigen ostdeutschen Bundesländer eine Position vertreten, die im Gegensatz zu der von Verhandlungsführer Günther Krause und Bundesfinanzminister Theo Waigel stand.
Was heißt das?
Es ging um die Frage, wie eine planbare Finanzausstattung der neuen Bundesländer geschaffen werden konnte, die ihnen eine gewisse Unabhängigkeit und Gestaltungsfähigkeit erlauben sollte. Dabei ging es vor allem um den Zugriff auf das Steuereinkommen in den neuen Ländern, das Romberg insgesamt diesen zukommen lassen wollte, damit sie eine eigene Basis im Rahmen ihrer landespolitischen Selbstbestimmung bekommen. An eben diesem Punkt wollten Waigel und die Bundesregierung nicht mitgehen.
Warum nicht?
Das war wie im Falle der Treuhandpolitik, die Waigel wollte, ein Grundkonflikt. Die Treuhand als Einrichtung des Bundesfinanzministers bedeutete, dass über deren Politik letztlich in Bonn entschieden wird, über die Ausgaben wie über die Einnahmen aus dem Verkauf des Volkseigentums. Damit übernahm die Bundesregierung zwar die Aufgabe, die neuen Länder aus der Bundeskasse zu subventionieren. Subventionierung bedeutet aber auch Abhängigkeit. Nachdem Lothar de Maizière Walter Romberg entließ, war die Koalition geplatzt. Ich glaube, de Maizière hatte nicht begriffen, worum es damals ging: um eine gewisse Basis für selbstbestimmte Entwicklung in den ostdeutschen Ländern.
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