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»Das Ostdeutsche gibt es nicht«
Judith Enders über stereotype Bilder und positive Erfahrungen der »Dritten Generation Ostdeutschland« und warum die zwar eine Gruppe ist, aber ohne gemeinsame Identität
Frau Enders, was bedeutet Ihnen der 3. Oktober, der Tag der Deutschen Einheit?
Der Mauerfall und der Sommer davor sind natürlich viel wichtigere Bezugspunkte für mich. Für den Tag der Wiedervereinigung wäre ich eher für den 8. Oktober, da war 1989 die große Demo in Leipzig. Der 3. Oktober ist ein politisches Datum. Daraus könnte man aber auch etwas machen. Wegkommen von dieser staatstragenden Veranstaltung mit unter der Flagge freundlich lächelnden Herren, hin zu Bürgerdialog. Man muss an die Emotionen der Leute ran.
Die Auseinandersetzung, die Ihre Initiative mit der sogenannten Dritten Generation Ostdeutschland angestoßen hat, hat starke Gefühle ausgelöst. Worin bestehen die Sichtweisen der zwischen 1975 und 1985 in der DDR Geborenen, die im öffentlichen Diskurs über den Osten fehlen?
Das Entscheidende ist, dass wir sagen: Das Ostdeutsche gibt es nicht. Im gesellschaftlichen Diskurs gibt es aber nur ein sehr eingeschränktes Bild von Ostdeutschland und das ist vor allem negativ konnotiert. Wir wenden uns gegen solche Stereotype und Vorurteile und wollen die Vielfalt im Osten zeigen. In Westdeutschland sagt nie jemand »ah, der ist ein Westdeutscher«. Der Westdeutsche ist ein Deutscher. Wer aus dem Osten kommt, ist aber immer ein Ostdeutscher. Da wird eine Gruppenzugehörigkeit konstruiert, die die Verhältnisse vereinfacht.
Das müssen Sie erklären: Die »Dritte Generation Ostdeutschland« ist zwar eine Gruppe, aber ohne gemeinsame Identität?
Wir teilen prägende Erfahrungen, aber wir haben eben auch unterschiedliche Erfahrungen gemacht, je nachdem, in welchem Umfeld wir aufgewachsen sind. Aber alle Ostdeutschen werden über einen Kamm geschoren, ob sie an der Ostsee oder in Thüringen aufgewachsen sind, Männer oder Frauen sind, egal welchen Milieus entstammen. Der Westen macht sich nicht die Mühe, so genau hinzuschauen. Aus Desinteresse oder aus dem Verkennen dessen, was man lernen könnte.
Nämlich?
Vor allem die Transformationserfahrung der 90er Jahre. Auf die kann psychosozial zur Bewältigung der globalen Herausforderungen wie Klimawandel oder Corona zurückgegriffen werden. Denn was wir damals gelernt haben: Es muss nicht alles so bleiben, wie es ist, auch wenn etwas so fest gemauert scheint wie die Berliner Mauer. Auch die kann von einem Tag auf den anderen zum Einsturz gebracht werden. Nichts ist für die Ewigkeit.
Was nützt dieses Wissen gegen die Erderwärmung?
Die positive Erfahrung ist: Man kann die Welt gestalten, aber Veränderung braucht Zeit und Engagement. Es reicht nicht, einfach abzuwarten und zu schauen, was passiert, sondern man muss eine aktive Rolle einnehmen. Diese Erfahrung hat diese ostdeutsche Transformationsgeneration den Westdeutschen voraus.
Für viele aus der Elterngeneration waren die Erfahrungen nach dem Mauerfall weniger positiv. Sie haben erlebt, dass Kämpfen nichts nutzt, um den Betrieb zu retten.
Ja, das stimmt, aber das betrifft die Älteren. Und auch in dieser Generation gibt es Gewinner. Die unbestreitbare Benachteiligung von Ostdeutschen ist dennoch nicht unser Hauptthema. Ich meine, die negative Kommunikation darüber, was alles nicht funktioniert, befeuert auf eine subtile Art und Weise dieses Jammer-Ossi-Klischee. Wir wollen aber die Gräben zwischen Ost und West nicht vertiefen, sondern zuschaufeln.
Wäre die Anerkennung von Diskriminierung und Benachteiligung nicht ein erster Schritt?
Wir sind keine Abgeordneten, sondern eine zivilgesellschaftliche Initiative. Der Fokus auf die Nachteile bei Vermögen, Einkommen etc. hat nichts nach vorne Gewandtes und motiviert nicht, etwas in eine Gesellschaft einzubringen.
Die Initiative ist gestartet aus dem Gefühl heraus, dass die Jahrgänge der Dritten Generation Ostdeutschland am Diskurs um den Osten und die DDR wenig beteiligt sind. Hat sich daran etwas geändert?
Die Medienresonanz auf unsere Initiative spricht zumindest dafür. Unser Projekt hat sich in den letzten zehn Jahren enorm aufgefächert, wir machen Veranstaltungen, das Lernportal Zeitenwende, Biographieworkshops, Kulturprojekte, Kunst, Lesungen, Wissenschaft - da ist eine große Vielfalt entstanden. Die biografische Aufarbeitung gab es 2010 noch nicht. Dabei geht es darum, in kleine Strukturen wie Familien zu schauen, zum ersten Mal einen Generationendialog zu beginnen, der oft auch schmerzhaft ist. Eine Veränderung ist auch, dass Einzelne der Dritten Generation Ost Karriere gemacht haben. Sie sind in der institutionellen Landschaft angekommen.
Haben sie dann noch Lust, sich in einer Ost-Initiative zu engagieren?
Durchaus. Diejenigen, die es geschafft haben, merken ja, wie wenige sie sind. Die Benachteiligung beschränkt sich eben nicht nur auf unsere Elterngeneration, sondern vererbt sich auch in die nächste Generation weiter. Denn diese Michaels und Thomase aus dem Westen, die in den 90er Jahren mit Busch-Zulage in den Osten gekommen sind, befördern halt die, die sie kennen, und die sind aus dem Westen.
Ist es wirklich so einfach?
Für unsere Eltern stimmt das auf jeden Fall. Die waren in den 90ern ja eigentlich auch noch nicht zu alt, aus denen hätte ja noch etwas werden können. Für meine Generation ist es etwas anders: Die in den 90er Jahren Kinder und Jugendliche waren, hatten mehr Gelegenheit, in diese Welt reinzuwachsen und die Codes und Verhaltensformate zu erlernen als ihre Elterngeneration.
Gibt es konkrete Maßnahmen, die helfen würden, das Bild des Ostens zu erweitern?
Es gibt eine Simple: im Gespräch bleiben. Mit allen Seiten. Auch damit die Westdeutschen irgendwann verstehen, dass auch ihre Geschichte in den letzten 30 Jahren weitergegangen ist, dass diese Transformation im Osten unsere gemeinsame deutsche Geschichte ist, um den Zusammenhang zur europäischen Geschichte bewusst zu machen. Wer kennt schon den 2+4-Vertrag, dabei hätte es ohne dieses wichtige Dokument keine europäische Einigung gegeben. Und wir hätten noch heute den eisernen Vorhang überall in der Welt.
Gespräche, gut und schön. Was halten Sie von etwas mehr Nachdruck durch eine Ostquote?
Ich persönlich bin dafür. Auch wenn es peinlich ist, wenn eine Gesellschaft eine Quote braucht. Denn dann hat sie ja nicht geschafft etwas zu integrieren, was sie eigentlich müsste. Für mich ist diese Forderung daher auch ein Signal: Ihr habt in 30 Jahren die Einheit nicht vollendet.
Bleibt die Frage, wer ostdeutsch ist? Was ist mit einer, die 1992 von Leipzig nach Stuttgart gezogen ist?
Es ist nicht meine Kernforderung, sondern auch ein Kommunikationsinstrument in Kreise hinein, die sich sonst nie, nie nie damit befassen würden.
Bezeichnen Sie sich selbst als Ostdeutsche?
Ja, natürlich. So negativ der Begriff eigentlich konnotiert ist, so sinnvoll finde ich es inzwischen, sich so einen Begriff anzueignen. Ihm eine selbstbewusstere Konnotation zu geben. Ich habe seit 2010 gelernt, die Bezeichnung ostdeutsch - nicht zu einem Kampfbegriff zu machen -, aber ihn positiv umzudeuten, ihn zu einer Stärke zu machen. Das ist auch eine Möglichkeit Diskriminierung entgegenzuwirken.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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