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Das Beispiel Bautzen

Eine Arte-Dokumentation über das Leben in einer politisch zerrissenen Kleinstadt

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Ruf, so scheint es, ist hin. Bautzen ist über 1000 Jahre alt; die Stadt in Ostsachsen hat eine pittoreske Altstadt voller sanierter Häuser und einen Dom, der als erste Kirche Deutschlands von Katholiken und Protestanten gemeinsam genutzt wurde. Es ist freilich nicht die Tradition der Toleranz, für die die Stadt bundesweit bekannt ist. Vielmehr ist sie als »braunes Nest« verrufen, seit dort 2016 zunächst ein als Flüchtlingsunterkunft geplantes Hotel abbrannte und später Flüchtlinge von Rechten über den Kornmarkt gejagt wurden. Bautzen war überregional in den Schlagzeilen - und viele Bautzener, klagt SPD-Oberbürgermeister Alexander Ahrens, sahen sich »fast leichtfertig« mit einem Etikett versehen, das »ihrem Lebensgefühl nicht entspricht«.

Eine Dokumentation des Senders Arte widmet sich nun jenseits jeglicher Leichtfertigkeit dem Lebensgefühl, vor allem aber dem gesellschaftlichen und politischen Leben in Bautzen. Ein halbes Jahr, vom Frühjahr bis zur sächsischen Landtagswahl im Herbst 2019, waren die Filmemacher in der Stadt unterwegs. Es entstand eine Reihe von zehn je halbstündigen Filmen, die sich um Themen wie Heimat und Identität, Einheimische und Fremde, um Medien und um Streitkultur drehen. Im Mittelpunkt stehen 14 sehr unterschiedliche Protagonisten, darunter ein Theaterpädagoge, ein Stadtführer, der Intendant des Theaters, der Lokalchef der »Sächsischen Zeitung« und eine alleinerziehende Mutter, die sich in einem Verein für Zuwanderer engagiert.

Entstanden ist ein tiefgründiges Porträt einer Stadt, die 39 000 Einwohnern hat und wirtschaftlich gut dasteht, in der aber bei der Landtagswahl 2019 mehr als jeder Dritte die AfD wählte. Bautzen ist auch eine Kommune, die seit 1990 ein Viertel ihrer Einwohnerschaft verloren hat und besonders unter den Folgen der Abwanderung junger Frauen leidet: Von einer »ganzen Volleyballmannschaft«, die wegging, berichtet die langjährige Gleichstellungsbeauftragte Andrea Spee-Keller. »Menschen in meinem Alter leben hier nicht mehr«, sagt auch die Historikerin Annalena Schmidt. Diese junge Frau freilich, die aus Hessen an das Sorbische Institut in Bautzen kam, ist vielen in der Stadt auch nicht willkommen. Sie prangert auf ihrem Blog Umtriebe von Nazis an und gilt deshalb als linke Nervensäge. »Gehen Sie wieder!«, wird sie bei einem Podium in einer Kirche unter dem Jubel vieler Zuhörer aufgefordert.

Bautzen ist eine zerrissene Stadt, in der ökonomische Probleme und vermeintliche Kränkungen in der Gegenwart zu tiefen Rissen in der Stadtgesellschaft führen, zu einem Wir-gegen-die-Gefühl, zu Ablehnung nicht zuletzt des politischen Systems, der Parteien und Medien. Sie wähle AfD, damit »die da oben mal ein paar auf den Zeiger kriegen«, sagt eine Protagonistin. Es werde, klagt der Stadtführer, über die Stadt »immer nur in eine Richtung berichtet, die das Schlechte zeigt«. Als Schmidt in der Kirche den Passus des Grundgesetzes zitiert, wonach Zensur nicht stattfinde, erntet sie Hohngelächter. Das verbreitete Misstrauen hat in Bautzen eine eigene, »alternative« Öffentlichkeit entstehen lassen, mit einem Lokal-Fernsehsender, der auch Vertretern rechter Gruppierungen unkommentiert ein Podium bietet - gemäß der Devise: Man muss alle zu Wort kommen lassen.

Ob man das wirklich muss? Die Antwort auf diese Frage überlässt der Film seinen Protagonisten. Sie halte nichts von »Wir-müssen-reden«-Podien, sagt Schmidt: »Ich werde keinen AfDler davon überzeugen, dass er ein toleranter Mensch wird.« Spee-Keller, die auch Kommunikationstrainerin ist, plädiert für Gespräche - aber auch für klare Kante: Wenn andere Menschen beleidigt würden, müsse man Grenzen ziehen.

Generell gehört es zu den Stärken des Films, dass er auf eigene Kommentierungen verzichtet und es den Zuschauer*innen überlässt, sich eigene Urteile zu bilden - und womöglich Konsequenzen für die eigene Lebensrealität zu ziehen. Denn Bautzen ist gewissermaßen überall: Die Stadt sei »für uns ein Beispiel«, betonen die Filmemacher an mehreren Stellen. Sie steht exemplarisch für Gefühls- und Konfliktlagen in vielen kleineren Städten und ländlichen Regionen im Osten der Bundesrepublik und darüber hinaus. Es sind Orte, in denen demokratiefeindliche Positionen vielfach erschreckend populär geworden sind - in denen es aber in der Regel auch viele Engagierte gibt, die von Pauschalurteilen über vermeintlich »braune Nester« zu Unrecht getroffen werden.

Bis März 2021 in der Arte-Mediathek abrufbar.

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