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Roosevelt, Deng und das deutsche Führungspersonal
Was wir aus der Bewältigung früherer einschneidender Krisen lernen können
Was haben der frühere Präsident Franklin D. Roosevelt, Chinas einstiger Chefreformer Deng Xiaoping und die Machteliten von heute in Deutschland und der westlichen Welt miteinander gemein? Die ersten Beiden weit mehr als auf den ersten Blick zu vermuten. Unser Establishment leider überhaupt nichts. Und das ist das Problem.
Dreimal am Abgrund
Als Roosevelt (1882-1945) die Präsidentschaftswahlen 1932 in den USA gewann, befand sich das Land in der tiefsten Wirtschafts- und sozialen Krise der Geschichte des Kapitalismus: 15 Millionen Arbeitslose, die Löhne um 60 Prozent abgestürzt, von 1930 bis 1933 gingen 172 800 Firmen bankrott, staatliche Sozialleistungen katastrophal unterentwickelt, der Faschismus auch in den Vereinigten Staaten auf dem Sprung. Der Kapitalismus am Abgrund. Nur ein ungeheurer Kraftakt, ein New Deal, ein einschneidender Richtungswechsel der Politik versprach Rettung. Roosevelt verkörperte diesen Aufbruch.
Als Deng Xiaoping (1904 - 1997) im November 1977 seine berühmte Rede zur Einleitung von »Reform und Öffnung« in China hielt, als sich seine Reformfraktion im Dezember 1978 im Zentralkomitee der KP Chinas endgültig durchsetzte, befand sich das Land in einer katastrophalen Krise. Nach den zwei Opiumkriegen Englands gegen China, nach dem japanisch-chinesischen Krieg und der Besetzung der Mandschurei durch Japan, nach dem Sieg der Volksbefreiungsarmee gegen die Truppen des korrupten Generals Chiang Kai-schek hatte China auch unter Mao Zedong keine Ruhe gefunden.
Der ruinöse Niedergang der Landwirtschaft nach der Bildung von Volkskommunen, die Repressalien gegen Intellektuelle, der Versuch eines »Großen Sprungs« in die Industrialisierung und die »Große proletarische Kulturrevolution« führten nach offiziellen Angaben zur Verhaftung von 2,62 Millionen Menschen und zu 712 000 Hinrichtungen. Bis zu 35 Millionen Chinesen verhungerten. Der Staatssozialismus stand am Abgrund. Nur ein ungeheurer Kraftakt, ein noch nie eingeschlagener Kurs versprach einen Ausweg. Dieser besteht in dem Versuch, sozialistische Ziele durch eine Kombination von Unternehmen in Staats- und Kollektiveigentum sowie privatkapitalistischen Unternehmen zu erreichen. Deng und die ihm folgenden Reformpolitiker verkörperten diesen Weg.
Als sich die deutsche Regierung 2008/09 in der tiefsten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 1929/32 sah, mitten in der heraufziehenden Klima- und Umweltkrise, schon längst auf austeritätspolitischen Pfaden zur Erosion sozialer Sicherheiten und im Angesicht des Erstarkens rechtsextremer Kräfte, befand sich die Bundesrepublik nach dem Befund des damaligen Finanzministers Peer Steinbrück am Rand des Abgrunds. In der Coronakrise tritt die Untauglichkeit kurzfristiger Profitfixierung für die Lösung langfristiger Probleme noch schärfer hervor. Die Klimakrise sowie die Hochrüstung führen zu dramatischen Bedrohungen. Nur ein ungeheurer Kraftakt, der eine gravierende politische Richtungsänderung einleitet, könnte einen Ausweg eröffnen. Aber weit und breit ist im herrschenden Block niemand zu erkennen, der die Bereitschaft Roosevelts oder Dengs zum Beschreiten unerforschter Wege hätte.
Zwei Brüche und eine Verweigerung
Roosevelt brach mit der liberalistischen Auffassung, dass die freie Konkurrenz auf den Märkten - in Wirklichkeit die von Monopolen und Oligopolen dominierte Konkurrenz - die Probleme lösen werde und dass der Staat sich weitgehend aus dem Wirtschaftsgeschehen und aus sozialen Angelegenheiten herauszuhalten habe. In einer Kaskade von Reformgesetzen schufen die New Dealer in kürzester Zeit die Grundlagen für den damals ungeheuerlich anmutenden Übergang von ungebändigter Monopolherrschaft zu einem in Grenzen sozialstaatlich regulierten Kapitalismus.
Das prägte bis in die 70er Jahre mit erheblichem Spielraum für sozialdemokratische Reformpolitik die OECD-Welt. Dieser Umbruch vollzog sich in erbitterten Kämpfen innerhalb der kapitalistischen Machteliten. Zeitweilig auch als Krieg zwischen den Alliierten unter Führung der USA und den von Faschismus und Militarismus beherrschten Staaten.
Auch Deng Xiaoping und ihm folgende Reformpolitiker vollzogen einen ungeheuerlich erscheinenden Bruch mit der herkömmlichen Interpretation des Marxismus, dass eine sozialistische Entwicklung eine hybride Struktur von sozialistischem und kapitalistischem Eigentum, von staatlicher Planung und kapitalistischer Konkurrenz ausschließe. Die Volkskommunen wurden aufgelöst, der in staatlichem und kollektivem Eigentum verbleibende Boden den Bauern zur Nutzung übergeben. Der Anteil der Staatsunternehmen an der Industrieproduktion ging auf 20 bis 30 Prozent zurück. Aber ein großer Teil der entscheidenden Hightech-Unternehmen blieb staatlich. Andere Weltkonzerne wie Huawei und Tencent sind jedoch privat.
Das Bankensystem wird streng staatlich kontrolliert. Unter den 500 vom US-Wirtschaftsmagazin »Forbes« erfassten umsatzstärksten Unternehmen der Welt befinden sich 150 chinesische, darunter 48 in zentralstaatlichem Mehrheitseigentum. Es ist der Staat, der für solche Erfolge die Infrastruktur bereitstellt und durch Planung und Industriepolitik Spitzenpositionen in der E-Mobilität, in Künstlicher Intelligenz, Telekommunikation und anderen Hochtechnologien fördert.
Kein kapitalistischer Staat hat in wenigen Jahrzehnten die Armut so erfolgreich zurückgedrängt wie China. Bis zu 500 Millionen Menschen wurden aus Armutsverhältnissen herausgeholt. Obwohl noch im unteren Mittelfeld beim Inlandsprodukt pro Kopf, ist China dabei, eine konsistente ökologische Nachhaltigkeitsstrategie einzuleiten. In Shenzhen - eine von 13 Pilotstädten mit rund 20 Millionen Einwohnern - sind 100 Prozent der 1800 Busse und 22 700 Taxis Elektrofahrzeuge. Der öffentliche Nahverkehr wird staatlich rasant ausgebaut. In der etwa 70 Millionen Einwohner umfassenden Region Greater Area Bay mit den Zentren Shenzhen, Guangdong und Hongkong sind alle Knotenpunkte innerhalb einer Stunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar.
Offen ist, wohin die von der KP programmierte »führende Rolle« der Staates und die »entscheidende Rolle« des Marktes für die Verteilung der Wirtschaftsressourcen führen. Aber die Erfolge katapultieren China in die Rolle einer Weltmacht - zum Wohle der Bevölkerung, trotz autoritärer Herrschaftsformen und nach westlichen Maßstäben existierender erheblicher Freiheitsdefizite.
Was zu einem »Sozialismus chinesischer Prägung« werden soll, was andere als Staatskapitalismus definieren - das hat sich erst in heftigsten Kämpfen innerhalb der chinesischen Führungselite durchgesetzt. Deng Xiaoping wurde dreimal aller Führungspositionen enthoben und schweren Repressalien ausgesetzt, ehe schließlich seine Reformpolitik zur langfristigen Strategie in China wurde.
Dem deutschen Führungspersonal - ob CDU/CSU, Grüne oder SPD - fehlt jeder Mut zu neuem Aufbruch. Es hat keine Vision, kein Projekt. Es ist kein Bruch mit einer Politik in Sicht, die die soziale Kluft fortlaufend vertieft , die ihre ohnehin zu niedrigen Klimaziele nicht oder vielleicht nur mithilfe der Corona-Pandemie erreicht, in Kriegskonflikte verstrickt ist und aufrüstet, die nicht einmal gegen US-Kernwaffen auf deutschem Boden aufmuckt.
Eine Politik ist dies, deren Fehlleistungen rechtsextremen Kräften, Nationalisten, Populisten und Verschwörungsspinnern Angriffspunkte bietet. Als ob die Erwärmung der Erdatmosphäre, der Anstieg der Meeresspiegel und die Versauerung der Ozeane, der Hunger in der Welt, der Zerfall von Staaten und anschwellende Migrationsströme nicht schrille Alarmsignale für eines der »an sich« handlungsfähigsten Länder der Welt wären.
Die Situation im Deutschland von heute erfordert - wenn auch mit ganz anderen Vorzeichen - ähnlich den Abgrundkonstellationen in den USA der 30er Jahre und im China der 70er kühne Richtungsentscheidungen. Aber die Wahrnehmungen und Einstellungen der herrschenden Eliten sind zurückgeblieben hinter den Herausforderungen. Von den Machteliten hierzulande ist nichts zu erwarten. Jedenfalls nicht gegenwärtig und nicht ohne jenen rebellischen Druck von unten, der zu Roosevelts Agenda erheblich beitrug.
In einem Interview begründete Roosevelt seine vorbeugende Reformstrategie nicht zuletzt mit dem Statement: »Mein Wunsch ist, die Revolution zu verhindern.« Im Frühjahr 1932 verlangte er ausdrücklich eine intensive Suche seiner Klasse nach politischem Neuland: »Das Land braucht und das Land verlangt, wenn ich die Stimmung richtig wahrnehme, beharrliches Experimentieren … Am wichtigsten ist, wir müssen etwas ausprobieren.«
Das ist das Prinzip, dass auch in China hinter den Sonderrechten in den Sonderwirtschaftszonen und Pilotstädten und hinter der gesamten Reformpolitik steckt: das Erproben neuer Wege. Die Führung der Kommunistischen Partei weiß, dass ihr ohne wirtschaftliche und soziale Erfolge die Kontrolle über die Bevölkerung entgleiten könnte. Mit Konfuzius gedacht, würde sie sonst das »Mandat des Himmels« verlieren.
Auch in Deutschland droht den Herrschenden ein Kontrollverlust. Ein eigentümliches Anzeichen dafür sind die Demonstrationen des diffusen Minderheitsgemischs von »Maskenverweigerern«, die zunehmend von rechts gekapert werden. Aber von den um sich greifenden Verschwörungsvorstellungen geht kein Aufbruch, geht nur Desorientierung aus.
Agenda für die Linke
Der pluralen gesellschaftlichen Linken im Bewegungs- und Parteienspektrum fällt es zu, eigene Strategien des Bruchs mit neoliberaler Politik, mit nur halbherzigem Reformverschnitt und mit der Neuen Rechten zu entwickeln. Sie muss versuchen, durch den Druck breiter demokratischer Bündnisse lernfähigen Teilen der Machteliten Freiräume für eine rationalere, problemlösende Politik zu öffnen und eine sozial-ökologische Transformation einzuleiten:
- Organisierende, mobilisierende, orientierende und verbindende Präsenz linker Aktivisten überall dort, wo Bürgerinnen und Bürger sich selbst in Initiativen und Projekten zur Verbesserung ihres Lebens und der Gesellschaft ermächtigen.
- Suche nach dem Gemeinsamen unter den verschiedenen alternativen Kräften. Verdichtung ihrer vielen unterschiedlichen Erzählungen zu einer gemeinsamen Rahmenerzählung von den Konturen einer solidarischen Gesellschaft und den Wegen dahin.
- Verteidigung gegen die zu erwartende Politik einer Rückkehr zu Schuldenbremse und Schwarzer Null zulasten der sozial Schwächeren in der Gesellschaft. Verteidigung gegen die Abwälzung der Krisenfolgen auf sie.
- Übergang zur Offensive für einen postneoliberalen sozialökologischen und demokratischen Wandel noch im Rahmen des Kapitalismus. Nur unter dieser Bedingung wäre eine rot-grün-rote Regierung sinnvoll. Der Anspruch der Klima- und Umweltpolitik müsste der Größe der Gefahren entsprechen.
- Anstelle von Rüstungsexporten und wachsenden Rüstungsausgaben nicht übergehbare deutsche Initiativen für Rüstungskontrolle und Abrüstung.
- Entschlossene Aufwertung öffentlicher Daseinsvorsorge und anderer öffentlicher Dienste, Stärkung des Sozialstaats für die deutsche Bevölkerung und Migrant*innen.
- Gerechte Beteiligung der Reichen und Superreichen an der Finanzierung des Richtungswechsels.
- Und notwendig wird eine Öffnung solcher innersystemischen progressiven Reformen für Projekte des Einstiegs in einen sozial-ökologischen Umbau, in eine systemüberschreitende Transformation mit der Perspektive eines demokratischen grünen Sozialismus.
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