Rätselhafte Rekorde
Trotz Corona: Auffällig schnelle Läufe in der Leichtathletik
Welt- und Europarekorde am laufenden Band in der Pandemie haben am Ende der Leichtathletiksaison Fragezeichen hinterlassen. »Ich bin überrascht über die zahlreichen Rekorde in einem Jahr, in dem über die große Krise des Sports gesprochen wird«, sagt Clemens Prokop. Nicht nur der ehemalige Präsident des deutschen Verbandes rätselt über diese Häufung an Höchstleistungen in der Coronakrise, in der monatelang Training kaum oder nur stark eingeschränkt möglich war und es lange keine Wettkämpfe gab. Was sind die Gründe für die zum Teil extremen Leistungssprünge?
»Wir haben uns angeschaut, wie sich die Weltspitze insgesamt in diesem Jahr verändert hat - also auch die Top 10 bis Top 30 in den Ranglisten«, erklärt Thomas Dreißigacker, leitender Bundestrainer Langstrecke. »Da war das Niveau ein bisschen niedriger in der Dichte als in den letzten Jahren.« In machen Disziplinen habe es aber absolute Weltklasseleistungen gegeben: »Woran das liegt, lässt sich pauschal nicht so einfach beantworten.« Neun Welt- und vier Europarekorde wurden im Laufen unterboten oder mehrfach verbessert. Nach langer Zeit gelang dies auch einer deutschen Läuferin. Melat Kejeta aus Kassel gewann am vergangenen Sonnabend Silber bei der Halbmarathon-WM im polnischen Gdynia und knackte in 1:05:18 Stunden den Europarekord für reine Frauenrennen. »Es wäre gelogen, wenn ich sage, das war zu erwarten gewesen«, bekennt Dreißigacker.
Heimische Höhenlage und Kreativität
Die meisten Rekordleistungen gelangen Läufern aus Uganda, Kenia und Äthiopien, die trotz Coronakrise weiter in den Höhenlagen ihrer Länder professionell trainieren konnten, argumentiert der deutsche Laufchef. Andererseits hätten etliche Athleten aus der Not auch eine Tugend gemacht, im Training mehr experimentiert und Neues versucht - wie der Norweger Karsten Warholm. In fünf von sechs Renner über 400 Meter Hürden blieb er unter 48 Sekunden und verpasste mit seiner Europarekordzeit von 46,87 Sekunden nur um neun Hundertstelsekunden den Weltrekord des US-Amerikaners Kevin Young. »Wir haben die Denkweise geändert und die Pandemie-Situation genutzt, um Training und Wettkämpfe im Jahr 2020 anders zu gestalten«, erklärte Warholm. Statt 20 Rennen wie in den Jahren 2018 und 2019 bestritt er nur neun.
»Es spricht viel für das Argument: Weniger Wettkämpfe, bessere Leistungen«, meint Prokop. Aus wirtschaftlichen Gründen hätten sich auch deutsche Leichtathleten in der Vergangenheit mit der Terminhatz »verzettelt und den Saisonhöhepunkt aus den Augen verloren«. Der Trainingsroutine zu entfliehen, hält auch Frank Lebert für eine Chance, schneller zu werden sowie höher und weiter zu springen. »Man muss mal anders denken, anders trainieren«, findet der einstige Nachwuchs-Bundestrainer und heutige Geschäftsführer der Deutschen Leichtathletik-Marketing.
Wunderwerk und Antidoping-Lockdown
Neuen Druck soll zudem der Wunderschuh »Dragonfly« des Herstellers Nike bringen, der bei vielen der jüngsten Rekordleistungen getragen wurde. »Die Berichte der Sportler gehen eindeutig in die Richtung, dass sie das Gefühl haben: Es bringt was«, so Dreißigacker. Studien, ob die Spikes wirklich entscheidende Antriebskraft geben, gibt es laut Gert-Peter Brüggemann nicht. »Einzige Ursache wird der Schuh für diese Leistungsverbesserungen nicht sein«, meint der Biomechanikexperte, fügt jedoch an: »Ich bin aber davon überzeugt, dass er einen Beitrag dazu leistet. Ob er zu Zeitsprüngen von fünf Sekunden oder mehr verhelfe, könne man nicht sagen.« Joshua Cheptegei hat den »Dragonfly« bei seinen drei Weltrekorden in diesem Jahr getragen und die Marken über 5000 und 10 000 Meter um zwei beziehungsweise sechs Sekunden verbessert. Auch im Straßenlauf über fünf Kilometer unterbot der 24-Jährige aus Uganda den bisherigen Rekord - und blieb in 12:51 Minuten als Erster unter 13 Minuten.
Fakt ist aber auch: Der Antidopingkampf fand weltweit für Monate fast nicht statt. »Das Kontrollsystem war vorher schon nicht überragend«, meint der Dopingexperte Fritz Sörgel. Leistungssprünge habe es immer gegeben, »so auffällig« häufig wie zuletzt im Laufbereich, sei das jedoch fragwürdig, auch wenn es Tests bei den Wettkämpfen gab. »Im Training werden die Vorteile verschafft«, betont der Pharmakologe. Und da könne man »ziemlich sicher sein«, dass das während des Antidoping-Lockdowns passiert sei. dpa/nd
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