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»Wie fühlen Sie sich, zwei Füße zu haben?«
In Erfurt wurde über das Leben und das Selbstverständnis von Juden in Deutschland diskutiert
Schon eine der ersten Fragen der Moderatorin löst bei den drei Frauen auf dem Podium Unbehagen aus. Das spürt man so sehr, dass sie selbst es ein paar Minuten später thematisiert, um das Klima der Diskussion zu retten. Denn dass Moderatorin Susann Reichenbach diese Frage in zwei Variationen an ihre Gesprächspartnerinnen gestellt hat, lässt das Unbehagen bei ihnen noch wachsen. Variante eins: »Sie alle sind Jüdinnen. Was bedeutet das in Ihrem Alltag?« Variante zwei: »Wie sehen Sie sich selbst als Jüdin?«
Für das Thema der Tagung in Erfurt, in deren Rahmen die Diskussion stattfand, ist diese Situation bezeichnend. Sie macht die Spannung greifbar, die jüdisches Leben in Deutschland durchzieht und die es im Alltag belastet. Der Vorsitzende der Landesgemeinde, Reinhard Schramm, brachte es während der Veranstaltung in den Räumen der Jüdischen Landesgemeinde Thüringens auf den Punkt: »Die Juden haben Angst, und man kann ihnen das auch nicht verbieten.«
Organisiert hatte die Tagung der Verein »Deutsche Gesellschaft«, der unter dem Motto »Antisemitismus in Deutschland« bundesweit acht Regionalforen veranstaltet. Dass Antisemitismus in Deutschland wieder viel stärker wird, belegt auch die Polizeistatistik. Wobei diese Daten nur einen Teil des wirklichen Kriminalitätsaufkommens abbilden. So zählte das Bundeskriminalamt 2019 deutschlandweit fast 2000 Straftaten, die aus Hass auf Juden begangen wurden – von Beleidigungen über Körperverletzungen bis zum antisemitischen Terroranschlag auf die Synagoge in Halle. 2018 hatte die Zahl polizeilich registrierter Straftaten bei 1600 Fällen bundesweit gelegen.
Andererseits sollen die Regionalforen zeigen, wie kurzsichtig es ist, über jüdisches Leben in Deutschland immer nur dann zu sprechen, wenn es antisemitische Vorfälle oder gar Anschläge gegeben hat. Weil Deutschland ein reiches jüdisches Leben hat, das die Nazis zwar aufs Grausamste beschädigt haben, das aber nicht einmal sie völlig vernichten konnten. Schramm erinnert daran, dass in Thüringen gerade 900 Jahre jüdisches Leben gefeiert werden. Und 2021 sollen 1700 Jahre jüdischen Lebens auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands gewürdigt werden.
Das Regionalforum in Erfurt zeigt, wie komplex und spannungsreich es für Juden ist, in der Republik zwischen Flensburg und Sonthofen, Aachen und Görlitz zu leben. So spannungsreich, dass selbst ehrlich-sympathisch gemeinte Fragen wie die von Reichenbach bei den Adressatinnen Unbehagen auslösen. Eine der Frauen auf dem Podium – die Autorin Lena Gorelik – räumt ein, dass sie die Frage der Journalistin nach ihrer Selbstwahrnehmung als Jüdin anders verstanden hatte, als sie tatsächlich gestellt worden war. Nämlich als Frage: »Wie ist es, jüdisch zu sein?« Diese Frage, sagt Gorelik, bekomme sie sehr oft gestellt. Und dabei wisse sie gar nicht so recht, was sie antworten solle. »Wie fühlen Sie sich als Jüdin? – Das ist so wie: Wie fühlen Sie sich, zwei Füße zu haben?«
Neben Gorelik erzählen die Regisseurin Sharon Ryba-Kahn und Laura Cazés, Mitarbeiterin der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, wie sie auf ihr Leben in Deutschland schauen. Da ist der Umgang mit Fragen der persönlichen Sicherheit, der für Juden einen ganz anderen Stellenwert hat als für Christen oder Konfessionslose. Während sich deutsche Kirchgänger nie Gedanken darum machen müssen, ob privat engagierte Sicherheitsdienste oder die Polizei ausreichend für ihren Schutz beim Beten sorgen, ist es für Juden überlebenswichtig, dass sie besonders geschützt sind, während sie in einer Synagoge zu Gott sprechen.
Cazés erzählt von »der Lebensrealität, in der ich aufgewachsen bin«. Als sie drei Jahre alt gewesen sei, sagt sie, habe ihr Kindergarten wegen Renovierungsarbeiten in ein anderes Gebäude umziehen müssen. »Und der einzige Ort, der sicher genug war damals, war eine ehemalige Army-Base der US-Truppen in München.« Bis heute gehe sie mit einem »Sicherheitsscreening« durchs Leben. »Ich nehme die Welt anders wahr.«
Jüdischsein – ob von innen gefühlt oder von außen aufgezwungen – ist immer mit der Geschichte der Shoa verbunden; natürlich ganz besonders in Deutschland. Ryba-Kahn sagt in dem Zusammenhang, ihr Verständnis von sich selbst als Jüdin sei ein anderes, wenn sie sich im Ausland aufhalte. »Wenn ich in Deutschland bin, stehe ich immer in Beziehung mit der Geschichte.«
Jüdischsein bedeutet für viele vor allem Zugehörigkeit zu einer Kultur, die in der Musik ebenso zum Ausdruck kommt wie in der Literatur oder dem Feiern jüdischer Feste. Tatsächlich würden sich manche Juden vom Judentum als Religion abzuwenden, sagt Cazés. Es gebe aber nur wenige, die sagen: Ab morgen bin ich kein Jude oder keine Jüdin mehr. Weil es nicht nur eine Religion sei, sondern ein Bezugspunkt. Es gebe Juden, die sagten, sie glaubten nicht an Gott. »Das heißt aber nicht, dass sie ihr Judentum ablegen.«
Das Unbehagen am Anfang des Gesprächs scheint längst vergessen, als dieser Satz fällt. Eben weil sich alle Beteiligten darauf eingelassen haben; ein winziger Schritt dazu, das Leben von Juden in Deutschland wieder ein bisschen normaler zu machen.
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