- Wirtschaft und Umwelt
- Landflucht
Mythos Landflucht
Gegenwärtig leben etwa zwei Drittel der Bevölkerung Deutschlands auf dem Land
Dörfer sterben aus, die Jugend wandert in die Städte ab. Kurzum, die ländlichen Räume werden immer weiter von der allgemeinen Entwicklung in Deutschland abgehängt. Beim Thünen-Institut hält man das für einen »Mythos«. Eine Analyse über alle Regionen hinweg zeige nämlich, dass »die regionalen Disparitäten zumeist stabil geblieben sind oder sich sogar verringert haben«. Der Politik empfehlen die Forscher einen differenzierteren Blick auf das wirkliche Leben.
Das beginnt mit der Definition. Angeblich leben wir in einer urbanisierten Gesellschaft. Über 75 Prozent der Menschen leben in Städten, nur 15 Prozent in Dörfern, heißt es häufig. Doch wo endet die Stadt, wo beginnt das Land? In der dicht besiedelten Bundesrepublik ist das nicht klar abzugrenzen. Das Thünen-Institut für Ländliche Räume in Braunschweig hat es dennoch versucht und kommt zu dem Schluss: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt in ländlichen Räumen.
Grundlage für die Feststellung ist eine neue Abgrenzung ländlicher Räume. Zu diesen zählen nicht nur Dörfer, sondern auch viele Klein- und Mittelstädte. Insgesamt umfassen die ländlichen Räume damit neun Zehntel der bundesdeutschen Fläche. Und dort leben 57 Prozent der Bevölkerung, das sind fast 50 Millionen Menschen.
Die Forscher haben 361 Kreisregionen, davon 276 ländliche, seit dem Jahr 2000 unter die Lupe genommen. Bei elf von 13 Indikatoren waren die Unterschiede zu den »Verdichtungsregionen«, also größeren Städten, entweder im gesamten Untersuchungszeitraum kaum vorhanden, oder sie waren vorhanden, sind aber konstant geblieben, oder sie haben sich sogar zugunsten der ländlichen Räume entwickelt. »Es wird immer alles schlimmer«, ist also eine falsche Wahrnehmung der Provinz.
Der Indikator Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Erwerbstätigen steht beispielhaft für insgesamt fünf Indikatoren, bei denen sich die Situation der ländlichen Räume im Vergleich zu den Verdichtungsräumen sogar verbessert hat. So stieg die Wirtschaftsleistung je Erwerbstätigen auf dem Land seit der Finanzkrise auf knapp 60 000 Euro. In den Ballungsräumen liegt sie mit über 70 000 Euro zwar höher, stagniert aber nahezu. Angesichts teurer Mieten und allgemein höherer Preise haben Stadtbewohner zudem wenig von der zusätzlichen Wirtschaftsleistung.
In jüngster Zeit wurde zurecht auch auf arme Städte und Gemeinden in Nord- und Westdeutschland verwiesen. Eine Typisierung zeigt jedoch vor allem ein Süd-Ost-Gefälle. Die Thünen-Forscher unterscheiden fünf Typen, von sehr ländlich bis nicht ländlich. Ländliche Regionen mit »weniger guter sozioökonomischer Lage« finden sich vor allem in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen; ländliche Regionen mit »guter sozioökonomischer Lage« gibt es dagegen häufig in Bayern und Baden-Württemberg.
Insgesamt belege die Thünen-Studie, dass die Entwicklung der Lebensverhältnisse auf dem Land »deutlich komplexer ist, als häufig dargestellt«, fasst Mitautor Patrick Küpper zusammen. Schon zwei benachbarte Regionen könnten sich erheblich unterscheiden. Eine allgemeine Abkoppelung ländlicher Räume von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung sei »eher Mythos als Realität«.
Aus einem finanzpolitischen Blickwinkel kamen Wissenschaftler aus Leipzig und Meißen zu einem ähnlichen Ergebnis. Ländliche Räume seien nicht durchweg steuerschwach, und wo eine Kluft zur Stadt bestehe, habe diese sich im Zeitablauf nicht unbedingt verschärft, »wie oft suggeriert wird«, schreiben Isabelle Jänchen und ihre Kollegen im »Wirtschaftsdienst«. Im Gegenteil: Im Jahr 2000 wiesen die Landkreise je Einwohner 71 Prozent der Steuerkraft der großen Städte auf. Bis 2016 hatten die Landkreise im Durchschnitt jedoch auf 82 Prozent aufgeschlossen. Ähnlich verlief die Entwicklung bei der Wirtschaftsleistung.
Für die Politik ist dies eine Herausforderung. Das Grundgesetz fordert gleichwertige Lebensverhältnisse landauf, landab zu schaffen. Doch während sich die Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land vielfach angeglichen haben, sind die Unterschiede innerhalb ländlicher Räume gewachsen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.