Leben ohne Soldaten schwer vorstellbar

Grafenwöhr lebt vom Truppenübungsplatz der USA, an den Abzug der Amerikaner will hier niemand so recht glauben

  • Rudolf Stumberger
  • Lesedauer: 7 Min.

Fährt man bei Weiden von der Autobahn auf die Bundesstraße Richtung Westen, begegnet man schon den ersten Anzeichen für den nahen Truppenübungsplatz: Breitachsige, olivgrüne Hummer-Jeeps mit US-Soldaten am Steuer, schwere Tieflader, mit denen Panzer transportiert werden, Kolonnen von Lastwagen in Tarnfarben. Fährt man dann von der Bundesstraße herunter und parkt schließlich am Marktplatz von Grafenwöhr, scheint alles Militärische in einer anderen Welt zu liegen. Es ist Donnerstag Vormittag kurz vor elf Uhr und der Platz mit dem Rathaus liegt in einer Art Dornröschenschlaf in der Sonne, alle halbe Stunde fährt ein Auto vorbei, es ist still. An der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt erinnert ein Zettel an das Rosenkranzbeten am Dienstag und Freitag, aber die Uhrzeit fehlt - wir haben Coronazeiten. Die Häuser rund um den Markt sind ein- oder zweistöckig, neben dem Gasthof zur Post liegt der »Adler-Wirt«, schräg über die Straße der »Gasthof Specht«, heute freilich ein Irish Pub.

Sieht hier also alles aus wie man es von einer Kleinstadt in der Provinz erwartet, so gibt es doch Hinweise auf die internationale Nachbarschaft: In den meisten Läden und Restaurants sind die Texte ins Englische übersetzt. So heißt der Schweinebraten mit Knödel bei der »Post« »Roast Pork with Potato Dumplings« (acht Euro) und beim »Adler« gibt es die zwei Bratwürste mit Sauerkraut als »Two Rost Sausages with Saurekraut« (3,80 Euro). Zwei Ecken weiter auf der Hauptstraße macht ein Uhrengeschäft als »Watch Service Point« auf sich aufmerksam und der Kellner im Indischen Restaurant spricht einen gleich auf Englisch an.

Auch im 1462 erbauten Rathaus steht auf der Infotafel unter dem »Bürgermeister« das englische »Major«. Der sitzt im ersten Stock des spätgotischen Gebäudes und heißt seit 2014 Edgar Knobloch. »Wenn die Haubitzen schießen, dann klappert das Geschirr im Schrank«, sagt der 56-Jährige. Man ahnt, die Stille in der Altstadt von Grafenwöhr ist nicht von Dauer. Ja, sagt Knobloch, seit der Ankündigung des teilweisen Truppenabzugs sei hier schon ein großer Medienwirbel gewesen, selbst das dänische Fernsehen sei gekommen. Und nein, sagt er weiter, eine konkrete Zahl, wie viele Soldaten in Grafenwöhr abziehen, sei nicht gesagt worden. Er sei zuversichtlich: »Wir nehmen das schon ernst, haben aber die Hoffnung, dass es nicht so schlimm kommt.« Bisher sei es immer weitergegangen, der Truppenübungsplatz sei der modernste der Welt, in den viel Geld hineingesteckt wurde. Der Bürgermeister ist überzeugt, der Standort stehe prinzipiell nicht in Frage, und der Abzug von Teilen der US-Soldaten könne Jahre dauern.

Grafenwöhr, das ist eine Stadt, die wirtschaftlich auf die Garnison ausgerichtet ist. Dort sind 3000 deutsche Arbeitskräfte beschäftigt, die 34 gastronomischen Betriebe und die diversen Tatto-, Piercing- und Nagelstudios leben nicht von den 6500 Einwohnern der Stadt, sondern von den 30 000 hier ansässigen US-Amerikanern. Von ihnen lebt auch die Hotellerie, sie stellen zum Beispiel 80 Prozent der Übernachtungsgäste im Hotel »Zum Stich’n«.

Normalen Tourismus gibt es hier keinen. »Für uns in Grafenwöhr ist die Wahl des US-Präsidenten wichtiger als die Wahl des Bundeskanzlers«, bringt es Hotelier Andreas Hößl auf den Punkt. Tatsächlich werden er und seine Familie die US-Wahlnacht vor dem Fernseher verbringen, in dieser Zeit macht das Hotel Betriebsurlaub. Die Amerikaner gelten als zahlungsfreudige Gäste, und da es sich meist um Dienstreisende handelt, werden auch die für die Provinz relativ hohen Übernachtungskosten von 120 Euro pro Nacht gezahlt. Die Familie hat keine Investitionen gescheut, um einen gehobenen Standard zu bieten und hat das Hotel im Laufe der Jahre von zehn auf heute 40 Zimmer ausgebaut.

Wie bedrohlich ist für die Hotellerie die Ankündigung des Truppenabzugs? »Da muss man erst einmal sehen, wer das gesagt hat«, meint Hößl mit Blick auf den zweifelhaften Ruf von Donald Trump als US-Präsident. Und dann habe es schon immer Umstrukturierungen am Truppenübungsplatz gegeben. Freilich, die konkrete Nennung einer bestimmten Truppeneinheit - das 2. US Cavallerie Regiment - sei schon bedrückend, vor allem für Vilseck. »Aber grundsätzlich«, so der Wirt, sehe er den Truppenübungsplatz nicht gefährdet. So werde derzeit für die US-amerikanischen Kinder eine Schule für 40 Millionen Euro gebaut, das sei schon in die Zukunft gerichtet.

Die Welt der Amerikaner beginnt hinter dem Kasernentor an der Neuen Amberger Straße. 1945 hatten die US-Truppen den Übungsplatz übernommen, der 1910 für die bayerische Armee angelegt worden war. Heute sind im Verwaltungsbereich der U.S. Army Garrison Bavaria mit den Standorten in Grafenwöhr, Vilseck, Hohenfels und Garmisch etwa 15 000 US-Soldaten stationiert. Insgesamt leben hier rund 40 000 US-Amerikaner - Soldaten und Zivilangestellte mit ihren Familien. Alleine zum Truppenübungsplatz Grafenwöhr mit den Standorten Tower Barracks Grafenwöhr und Rose Barracks Vilseck zählt man etwa 30 000 US-Amerikaner, davon sind etwa 12 000 US-Soldaten.

Der Truppenübungsplatz soll elektronisch auf dem neuesten Stand sein, geübt wird auch mit Simulatoren. Er steht unter amerikanischer Verwaltung, hierher werden jedes Jahr zusätzlich auch sogenannte rotierende Einheiten verlegt, und das Areal wird außer von der Bundeswehr auch von anderen Nato-Mitgliedstaaten genutzt.

Insgesamt sollen aus Deutschland 12 000 US-Soldaten abgezogen werden, davon sind 1000 aus Grafenwöhr und 4500 aus Vilseck im Gespräch. Fragt man wegen des Truppenabzugs beim »U.S. European Command Public Affairs« in Stuttgart nach, heißt es, Details und Zeitpunkte könne man derzeit nicht nennen, die Pläne würden auf höchster Ebene ausgearbeitet. Und nein, den Truppenübungsplatz könne man derzeit nicht besuchen.

Vor dem Garnisonstor sieht es ein bisschen aus wie in einer amerikanischen Kleinstadt: Bei diversen Autogeschäften wehen USA-Fahnen, ein Autobauer bietet »Military Sales«, also Preisnachlässe für Militärpersonal an, ein Händler wirbt: »We buy US cars« - wir kaufen amerikanische Autos. Dass durch das US-Militär etliche Dollars in die Region fließen, machen Zahlen aus der Presseabteilung der US Armee Garnison Bavaria für 2018 deutlich. Danach beziffert die US-Armee den jährlichen »Economic-Impact« auf 660,8 Millionen Euro. Die Lohn- und Gehaltszahlungen für die rund 3000 deutschen Arbeitnehmer belaufen sich auf jährlich etwa 176,9 Millionen Euro. Sie erfolgen vollständig aus Mitteln des US-Verteidigungshaushalts. 106 Millionen Euro sind Miet- und andere Aufwendungen für den Unterhalt von angemieteten Häusern und Wohnungen.

Derzeit leben zirka 18 500 US-amerikanische Soldaten und Zivilisten »off-post«, das heißt außerhalb des Kasernengeländes in US-Wohnsiedlungen. Zusätzlich werden etwa 2000 Wohnungen auf dem privaten Markt kurzfristig angemietet. Die privaten Ausgaben der US-Soldaten und ihrer Familien in der gesamten US-Armee Garnison Bavaria (Grafenwöhr, Vilseck, Hohenfels und Garmisch), sind auf 103,8 Millionen Euro geschätzt. »Trotz einer eigenen Versorgung in der Kaserne profitieren Souvenir-, Lebensmittel-, und Bekleidungsgeschäfte, Friseure, Taxiunternehmer und andere Dienstleister. Die Gastronomie und das Hotelgewerbe florieren. Zahlreiche Autoverkäufer bieten vor den Kasernentoren US-Versionen der verschiedensten Marken an«, wirbt die Pressemitteilung der US-Army selbstbewusst. Im Haushaltsjahr 2018 wurden 283,1 Millionen Euro für Bauaufträge, Instandhaltungsmaßnahmen, Serviceleistungen und die medizinische Versorgung in der Garnison ausgegeben.

Momentan laufen Baumaßnahmen für etwa 120 Millionen US-Dollar, unter anderem der Neubau einer Grundschule, eines militärischen Schulungszentrums mit Simulationstraining und ein Warenhaus für Übungsmaterialien in Grafenwöhr, als auch mehrerer Renovierungsprojekte und die energetische Sanierung verschiedener Wohngebiete, sowie der Neubau von Doppelhäusern im US-Südlager Vilseck. So überrascht das Fazit des Grafenwöhrer Bürgermeisters Edgar Knobloch nicht: »Ohne Amerikaner kann man sich die ganze Region schwer vorstellen.«

Ein zweites Tor zur Garnison und der Welt dieser Amerikaner liegt am Ende der Alten Amberger Straße, die als Kneipen- und Vergnügungsmeile der Stadt dient. Ihre Geschichte kann man im örtlichen »Kultur- und Militärmuseum« nachlesen. Etwa, dass in den 1960er Jahren hier Elvis Presley stationiert war und in Mickes Bar ein Privatkonzert gab. In dem Etablissement, dessen Stühle und Musikbox in der Ausstellung zu sehen sind, kostete 1972 eine Flasche »Kröver Nacktarsch« 22 Mark. Und auch die Atmosphäre des Kalten Krieges scheint im Museum auf, wenn in einer Tonbandaufzeichnung ein offensichtlich betrunkener Bundeswehrsoldat in fränkischem Dialekt bei der Staatssicherheit im Osten anruft und seine Dienste als Spion anbietet. Der Offizier am anderen Ende der Leitung legt schließlich auf. Diese Zeiten sind vorbei, aber der Truppenübungsplatz hat durch den Konflikt in der Ukraine eine neue Bedeutung erlangt: In Grafenwöhr üben auch Panzer der ukrainischen Armee.

Ein unbekanntes Detail der Geschichte des Truppenübungsplatzes gilt es noch zu erwähnen: Während der Zeit der Räterevolution 1919 war das Militärgelände in der Hand der bayerischen Roten Armee beziehungsweise der Soldatenräte. Eine Tradition, die derzeit nicht mehr gepflegt wird.

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