Selbst das Essen wird knapp

Die ökonomischen und sozialen Folgen der Corona-Einschränkungen treffen Südafrikas Bevölkerung hart

  • Christian Selz, Kapstadt
  • Lesedauer: 7 Min.

Es waren zwei Statistiken, die in Südafrika in den vergangenen Wochen für Schlagzeilen gesorgt haben. Um 51 Prozent, so verkündete die staatliche Statistikbehörde Stats SA im September, ist das Bruttoinlandsprodukt der neben dem ölreichen Nigeria stärksten Volkswirtschaft des afrikanischen Kontinents im zweiten Quartal 2020 geschrumpft. Zwar fällt der Wert auch deshalb so drastisch aus, weil er saisonal angepasst sowie auf das Gesamtjahr hochgerechnet ist, dennoch spiegelt er klar die ökonomischen Auswirkungen des Lockdowns wider.

Tage später meldete sich Shabir Madhi, Vakzinologie-Professor an der renommierten Johannesburger Witwatersrand-Universität und Mitglied des Beraterstabs von Gesundheitsminister Zweli Mhkize, zu Wort und lieferte den nächsten Schockwert. Bis zu 40 Prozent der Menschen in den Ballungsräumen des Landes hätten sich wahrscheinlich bereits mit dem Coronavirus SARS-Cov-2 angesteckt, erklärte der Forscher mit dem Hinweis auf Antikörpertests. Landesweit schätzte er die Zahl der Infizierten auf 15 bis 20 Millionen, also ein Viertel bis zu einem Drittel der Gesamtbevölkerung.

Zusammengenommen werfen die Zahlen die Frage auf, was der harte Lockdown, den Südafrikas Regierung Ende März ausgerufen hatte, letztlich bewirkt hat. Relativ klar ist derweil, wie unzureichend die Sozialmaßnahmen der Regierung waren und wem die Einschränkungen am meisten geschadet haben.

»Ich habe sehr, sehr große Angst, dass sich jemand in unserem Team ansteckt«, erklärt Christopher Siwela. »Denn das Virus ist da, und es tötet. Das ist kein Witz.« Der 42-Jährige sitzt auf dem Ehebett im Schlafzimmer seiner kleinen Zweizimmerwohnung im Kapstädter Stadtteil Brooklyn. Auf den Kopfkissen parkt in ordentlicher Reihung der Spielzeug-Fuhrpark des fünfjährigen Lungile. Der hockt nebenan in der Wohnküche vor dem Fernseher, während seine Mutter kocht. Ein eigenes Kinderzimmer hat der kleine Fan schneller Sport- und kräftiger Geländewagen nicht, der zweite Raum der Wohnung ist untervermietet. Doch selbst so reicht das Geld momentan vorne und hinten nicht. Entsprechend ist sein Vater in Sorge. Um seine kleine Familie, um seinen Arbeitsplatz, um seine Existenz.

Dabei hatte der gebürtige Simbabwer sich einiges aufgebaut, seitdem er 2006 nach Südafrika kam. Er arbeitet als Oberkellner in einem der besten Restaurants der Stadt, assistiert inzwischen auch dem Sommelier bei der Auswahl der passenden Weine. Unten vor dem Block steht das eigene Auto, er ist stolz auf die Wohnung in dem Stadtteil unweit des Hafens, gut angebunden an die Innenstadt und wesentlich sicherer als eine Bleibe in einem der Townships, wie Siwela sagt. In Brooklyn lebt die Mittelschicht, die Südafrikas Wirtschaft am Laufen hält - und vom Lockdown besonders hart getroffen wurde.

Mit Ausnahme essenzieller Dienste wie Supermärkte und Apotheken mussten Ende März sämtliche Betriebe des Landes vorübergehend schließen. Für die meisten ging es erst ab Juni oder Juli weiter, zunächst zudem mit großen Einschränkungen. Die Folgen für die Beschäftigten waren verheerend. Etwa drei Millionen Menschen haben einer großangelegten Studie mehrerer südafrikanischer Universitäten zufolge während des Lockdowns ihre Arbeit verloren. Laut einem im August veröffentlichten Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen rutschten 34 Prozent der Mittelschichthaushalte in Südafrika in finanzielle Nöte ab.

Siwela ist eines der Gesichter hinter diesen Zahlen. Fast fünf Monate war das Restaurant, in dem er arbeitet, geschlossen. Um den Betrieb am Leben zu halten, bot die Küche einen Lieferdienst an, Siwela wurde vom Oberkellner zum Lieferdienstboten. Inzwischen dürfen zwar wieder Gäste kommen, aufgrund der Abstandsregeln jedoch nur halb so viele wie zuvor. Zudem fehlen die Touristen.

Das staatliche Überbrückungsgeld aus der Kasse der Arbeitslosenversicherung, etwa 30 Prozent des Gehalts, hat Siwela in all der Zeit lediglich für zwei Monate bekommen - und auch das nur mit großer Verzögerung. Anfangs wurden Ausländer, auch wenn sie wie er jahrelang eingezahlt hatten, schlicht nicht berücksichtigt. Sein Glück war, dass der kleine Betrieb - geführt vom Küchenchef selbst - die Gehälter weiter zahlte, wenn auch freilich ohne Trinkgelder, die sonst bis zu 50 Prozent seines Verdienstes ausmachen. »Ich bin unserem Chef dafür sehr dankbar, denn viele andere haben nichts bekommen«, sagt Siwela. Sein Untermieter etwa, der als Barmann in einem anderen Spitzenrestaurant arbeitet, habe im Lockdown keinen Cent bekommen. Er habe zudem von Leuten gehört, die ihre Fernseher und Küchengeräte verkauften, um sich Essen leisten zu können, erzählt Siwela.

Mit seinem Teilgehalt und dem Einkommen seiner Lebensgefährtin, die für eine Kaufhauskette als Bonitätsprüferin arbeitet, konnte die Familie zumindest die Hälfte der Miete zahlen. Den Fehlbetrag, das hat Siwela mit dem Vermieter vereinbart, wird er in den kommenden Monaten abzahlen. Die Einschnitte waren und sind trotzdem deutlich zu spüren. »Ich konnte nicht einmal meinen Vater beerdigen«, erzählt der Mann leise, dem seine Familie so wichtig ist. Der Senior war im Mai in Simbabwe gestorben, als die Grenzen geschlossen waren. Das schlimmste sei gewesen, dass er zu der Zeit nicht einmal Geld für ein angemessenes Begräbnis habe schicken können, sagt Siwela. Seine Augen werden nun rot, aber anmerken lassen will er sich das nicht.

Inzwischen arbeitet Siwela zwar zumindest wieder an vier Tagen pro Woche, doch rosig ist die Lage noch immer nicht. »Wenn du bei uns in den Kühlschrank guckst, wirst du kaum etwas finden«, sagt der Mann, der beruflich täglich festlich auftischt. Zu Hause beschwere sich sein Sohn darüber, dass kein Joghurt mehr da ist. »Ich sage ihm dann jedes Mal, dass ich den vergessen habe«, erzählt Siwela. In Wirklichkeit aber reiche das Geld dazu einfach nicht. Statt Frühstück und Mittagessen gebe es inzwischen nur noch einen Brunch. »Wir haben auf zwei Mahlzeiten am Tag heruntergefahren und können so wenigstens abends ordentlich essen.«

Sabelo Mnyali beschreibt ganz ähnliche Nöte. »Wir haben eigentlich immer Fünf-Kilo-Pakete Reis gekauft, jetzt reicht es nur noch für Zwei-Kilo-Beutel«, erzählt der 37-Jährige, der mit seiner Frau Nontsikelelo und den gemeinsamen beiden Kindern in einer Wellblechhütte im Township Nyanga lebt. Die Bleibe ist gemietet und steht auf dem Grundstück mit einem kleinen Haus aus dem staatlichen Wohnungsbauprogramm.

»Backyarders« - Hinterhöfler - werden Menschen wie die Mnyalis in Südafrika genannt. Viele von ihnen haben während des Lockdowns ihre Bleibe verloren, weil sie die Miete nicht mehr aufbringen konnten. An mehreren Orten in Kapstadt haben Wohnungslose deshalb städtische Brachen besetzt und versucht, neue Hüttensiedlungen zu errichten. Die Stadtverwaltung setzte eine private Räumungsfirma gegen sie ein, die, unterstützt von Aufstandsbekämpfungseinheiten der Polizei, die Hütten wieder abriss. Inzwischen hat ein Gericht die Räumungen untersagt, der Konflikt aber schwelt weiter. Etwa 400 000 Menschen allein in Kapstadt standen bereits vor dem Lockdown auf der Warteliste für eine Sozialwohnung.

Die Mnyalis konnten in ihrer Hütte bleiben, obwohl Sabelo seinen Job als Nachmittagsbetreuer für Grundschüler unmittelbar mit Beginn des Lockdowns verloren hatte. Angestellt war er dort vom Sozialministerium, das über eine sozialverträgliche Lösung aber anscheinend nicht einmal nachdachte. »Als die Regierung die Schließung der Schulen bekannt gegeben hat, wurden wir entlassen. Wir hatten befristete Verträge mit der Option auf Verlängerung, aber es gab nicht einmal Verhandlungen.« Weil er die Stelle erst im Januar angetreten hatte, bekam Mnyali auch kein Arbeitslosengeld.

Über die Runden kam die junge Familie mit dem Gehalt von Nontsikelelo, die ihren Job in einem Callcenter behielt, seit Beginn des Lockdowns aber aus dem Homeoffice in ihrer Hütte arbeitet. »Ich musste zum Herrn des Hauses werden«, sagt die 29-Jährige und muss sogar kurz lachen. Der Ernst kehrt in ihr Gesicht zurück, als sie erklärt, dass sie ihren einjährigen Sohn zu ihrer Mutter geben musste, weil an Kundengespräche sonst kaum zu denken wäre. Lediglich am Wochenende kommt der Kleine zurück zu seinen Eltern und der sechsjährigen Schwester. »Ich vermisse ihn sehr. Dass er nicht bei mir ist, ist jeden Tag schwer«, sagt Nontsikelelo.

Finanziell aber kämen sie so gerade eben über die Runden. »Wir kaufen das Nötigste, aber den Luxus, uns mal etwas darüber hinaus zu gönnen, den gibt es nicht mehr«, berichtet Nontsikelelo und erklärt dann, was für sie »Luxus« ist: »Früher haben wir manchmal Essen vom Imbiss geholt, Snacks kaufen wir auch nicht mehr.« Auch Sparpläne hätten sie aussetzen müssen und nicht einmal mehr für die Bestattungsversicherung bezahlen können, ergänzt Sabelo Mnyali.

Allein ist die Familie mit all dem bei weitem nicht: Um 49,8 Prozent, so hat Stats SA berechnet, sank der Haushaltskonsum in Südafrika im zweiten Quartal 2020. Die Mnyalis blicken dennoch wieder mit etwas Zuversicht in die Zukunft. Sabelo hat vor einigen Wochen einen neuen Job gefunden.

Christopher Siwela hofft derweil, dass nach der Aufhebung des Einreiseverbots bald wieder Urlauber nach Südafrika kommen und er wieder in Vollzeit arbeiten kann. Mindestens eine Million Arbeitsplätze jedoch, so schätzen Ökonomen, sind durch den Lockdown auf längere Sicht verloren gegangen.

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