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»So isser, der nädde Sachse«
Michael Bartsch über die alternativlose Alternative DDR, eine verratene Revolution und das Apokalyptische
»Die Alternative zur DDR war alternativlos. Wer jetzt noch über Alternativen zur Alternative nachdenkt, ist entweder ein Romantiker oder ein Konterrevolutionär.« Das ist die eine Seite der Weisheit des verwaisten Michael Bartsch. Als Wartungsingenieur in der DDR wusste er wohl, wie Kaputtes zu reparieren sei, und Alternativen zu Gängigem waren ihm da sicher nicht fremd. Scheitern und Erfolg waren wohl gleichermaßen möglich. Dann kam die Alternative. Michael Bartsch sattelte um, wurde Journalist und wollte beobachten und berichten, wie sich Neues entwickelte aus der Saat, bereits auch mit ihm in der DDR gelegt. Was sich aber schon bei seiner ersten Westreise noch aus der DDR andeutete, wurde »neue« Realität; eine Realität des Waisenkindes, ausgesetzt im wirklich Neuen. Er fand sich wieder im »circulum vitiosus« ständiger Negation, der die Reproduktion des Gewohnten innewohnt: »Ein System, das zu seiner Rechtfertigung die vollständige Negation des vorhergehenden braucht, ist auch nur ein Glied in der Kette der Negationen.« Das ist der Weisheit des Waisen letzter Schluss. Zukunftsweisende Elternschaft ist unauffindbar.
Als Reisender kommt er in den Westen und wird wahrgenommen als Exot, als Zombie, als »Neger«. Er selbst aber bemerkt schnell, dass »die hübsche Beamtensiedlung« mit ihren Bewohner*innen sich kaum unterscheidet von der heimischen Kleingartensiedlung. Er merkt jedoch auch, dass die Beziehungen noch eine andere Ebene haben: das Gefühl der wohltätigen Überlegenheit gegenüber dem armseligeren Fremden, nach dem die Läden in ihrem Überfluss »wie Huren grapschen«. Das sei denen gegönnt. Unverständlich ist dem darüber Sinnierenden jedoch die Rolle von »eingefangenen« Frauen und des nur unterhaltsamen, Langeweile durchbrechenden Sex. Auch das ist allerdings nur ein Vorwort, soll zum Verständnis des folgenden Literarischen beitragen.
Was wirklich passiert, ist in den letzten 30 Jahren beschrieben, begründet, hin und her gewendet, abgetastet, durchwühlt. Es erwartet Leserinnen und Leser in 23 Texten, davon vier brutal lyrische und am Schluss, in der Form der Thesen des ZK der SED zum 1. Mai, alle Erkenntnis zusammenfassend. Der Journalist beginnt mit einer Reportage über seine Westreise und endet mit durchaus journalistisch angelegten Kommentaren zum Sachsen und Besserossi. Dazwischen (ver-)enden jedoch die Möglichkeiten des Journalisten und gebären neues, sprachlich Lebendiges. Die Enttäuschung über die misslungene Verwandlung der Gesellschaft braucht halt mehr. Sie braucht die Kunst, die »doppelte Kodierung« des Vorgefallenen als Bericht und als Metapher des sonst Unbegreiflichen. Strukturell folgt das nicht der gewohnten »Rahmenerzählung«.
Es sind aber journalistisch gerahmte Erzählungen in Prosa und eben vier Mal auch lyrisch. Und siehe da - Bartsch kann das. Er zeigt uns alle Seiten des Enttäuschenden in einem Potpourri literarischer Genres, Stilrichtungen und Sujets, aber auch die als wissenschaftliche Analyse vorgetäuschte, sich auf Erfahrung berufende Typisierung der Ossis fehlt nicht. »Meine Fremdelei in dieser so alten Neu-Zeit und in dieser erstarrten Gesellschaft muss niemand teilen. Zumindest ein sprachliches Vergnügen bei der Lektüre darf ich aber wünschen.« Ein Versprechen des Autors, das er einhält.
Beim Lesen tauchen Autoren und andere Texte assoziativ auf, ohne dass irgendwo platte Imitation festzustellen wäre. Die lyrischen Versuche orientieren sich am Dadaismus: »Der Hubraum hubt, der Kolbenschwung erwirwowürgt Beschloinigung.« Das ist der Trabant als Symbol der vergangenen Unzulänglichkeit. Die drei anderen »Gedichte« folgen dem Muster nicht so genau. Aber Bartsch greift mit seinen lyrischen Versuchen die Sprache ab, zerteilt sie und fügt sie neu zusammen, Neues verkündend. Er weiß: »Der Dadaist Richard Huelsenbeck polemisierte einst gegen die bösartige Gemütlichkeit. Sie trifft auf die Österreicher ebenso zu wie für die Sachsen.« Ein bemerkenswerter Vergleich. In der Manier einer naiven »Dorfgeschichte« erzählt er zum Beispiel, wie sich der Plan der Errichtung einer neuen Feierhalle auf dem Friedhof von Postwitz unter den Bedingungen bundesdeutscher Förderrichtlinien, westdeutscher Berater und neuer Art des sich einmischenden Journalismus zum neuerlichen alten Nichts wandelt. »Nun zur Demokratie gehört auch die Presse, die freie, die freigelassene, aber von den Verlagen bald wieder eingefangene.« Erzählerisch erinnert Bartsch hier an den Sarkasmus eines Nestroy.
Misslungene Verwandlung ist überhaupt ein Thema Bartschs. Da kommt er erzählerisch schon mal in die Nähe Kafkas (»Optimiere sich wer kann«). Er kennt den »Fluch des Vollkommenheitsdranges« - der konterkariert wird im Misslingen: »Das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis.« Hilflos steht der Autor oft vor der misslungenen Veränderung, vor der verratenen Revolution, die zum Opfer eines offensichtlich unabwendbar fatalistischen Verlaufs der Geschichte wird. Das erinnert plötzlich an Büchners Danton, Bartsch: »der Uhrzeiger, rotierte täglich aufs Neue und mahlte die Zeit tot.« Danton: »Will denn die Uhr nicht ruhen? Mit jedem Picken schiebt sie Wände enger um mich, bis sie so eng sind wie ein Sarg.« Wir treffen jedoch auch auf Heldengeschichten und Wimmelbilder einer Apokalypse.
Man soll nichts weiter verraten. Man erfährt vom »Würgeengel«, der selbst nur unter dem Zwang des Systems andere zerstören muss. In Art einer Legendengeschichte entsteht das Schicksal einer mutigen Frau, die sich als Einzige mit Kirchglockengeläute dem Teuflischen entgegenstellt und gerade dafür von jenen, die sie retten wollte, bestraft wird; ein offensichtlich ewiges Schicksal »Heiliger«, unabhängig von den konkreten Umständen. Eins aber noch: Mit den Sachsen kommt der Thüringer Bartsch nicht wirklich zurecht: Dresden ist ihm »ein schlafendes Ungeheur«, »der gemütliche Sachse ist der verbissenste Preuße, wenn es um Vorschriften geht.« Es gehört dazu: »So isser der nädde Sachse, immer hintenrum und daher hervorragend diktaturgeeignet.«
Schließlich und endlich lenkt Bartsch jedoch ein und gibt ein Rezept zum Weiterleben: »Ich schäme mich meiner Artgenossen nicht. Aber der Stolz auf sie ist der Nachsicht gewichen: So ist eben das Volk.«
Michael Bartsch: Dreißig Jahre und ein bisschen Waise. Texte und Gedichte aus Einheitsdeutschland. Verlag am Park, 160 S., br., 15 €.
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