Vier Minuten schiere Fassungslosigkeit

Nach der Leipziger »Querdenken«-Demonstration steht Sachsens CDU-Innenminister Roland Wöller unter Druck – wieder einmal

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

Knapp vier Minuten dauerte das Statement, das Roland Wöller am Tag nach der aus dem Ruder gelaufenen samstäglichen Demonstration von »Querdenken« in Leipzig abgab. Vier Minuten, in denen es Sachsens CDU-Innenminister schaffte, mit keinem Wort auf randalierende Neonazis und die zahlreichen Übergriffe gegenüber Journalisten und Polizeibeamte bei der Großveranstaltung einzugehen; vielmehr zeichnete er ein Bild friedlich demonstrierender Kinder und Senioren – und unternahm ein plumpes Ablenkungsmanöver, indem er einen »sinnlosen Gewaltausbruch« im linken Szeneviertel Connewitz geißelte.

Nach der Erklärung des Ministers, die nur per Video zu verfolgen war, herrschte in der Landespolitik kollektives Köpfeschütteln. Er sei »fassungslos«, sagte der grüne Innenexperte Valentin Lippmann: »Das ist keine Aufarbeitung, das ist absurd.« Adam Bednarski, Stadtchef der Linken in Leipzig, sieht Wöller in einer »Parallelrealität« leben.
Die Veranstaltung in Leipzig hat Sachsen erschüttert; Sondersitzungen von Innen- und Rechtsausschuss im Landtag sollen das Debakel aufarbeiten. Über 40.000 Demonstranten hatten sich in der Innenstadt versammeln können, weil das Oberverwaltungsgericht (OVG) Bautzen die von der Stadt verfügte Verlegung an den Stadtrand kurzfristig gekippt hatte. Auflagen wie Abstände und das Tragen von Masken wurden weitgehend ignoriert. Dennoch wurde die Kundgebung erst nach Stunden aufgelöst. Danach kam es zu Angriffen von Rechtsextremen auf die Polizei sowie eine eigentlich untersagte Demonstration auf dem Leipziger Ring, einer seit dem Herbst 1989 äußerst symbolträchtigen Route. Die Polizei griff nicht ein; Wasserwerfer wurden erst spätabends in Connewitz eingesetzt. Danach war von »Staatsversagen« die Rede; der Leipziger SPD-Abgeordnete Holger Mann sprach von einem »Offenbarungseid der Sicherheitsbehörden«.

Kritik geht an etliche Adressaten, darunter das OVG. Die Stadt Leipzig als Versammlungsbehörde bedauerte dessen Beschluss. Wöller nannte es »unverantwortlich«, dass das Gericht die »größte Corona-Party genehmigt« habe. CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer kündigte an, man werde nun die Corona-Verordnung des Landes »nachschärfen«. CDU-Innenpolitiker Rico Anton sagte, man wolle von Justizministerin Katja Meier (Grüne) Details zur Entscheidung des OVG erfahren. Diese verwies in scharfen Worten auf die Unabhängigkeit der Justiz und warnte vor einem »bewussten Bruch mit dem Verfassungsprinzip der Gewaltenteilung«.

Die Attacken auf das Gericht und Meier gelten als durchsichtiger Versuch, Wöller zu entlasten. Dieser steht enorm unter Druck. Die Linksfraktion fordert Kretschmer auf, ihn zu entlassen; Wöllers »andauerndes Führungsversagen« habe »massenhafte Gesundheitsgefährdung ermöglicht«, sagt Fraktionschef Rico Gebhardt: »Es reicht jetzt.« Brisanter ist, dass offene Rücktrittsforderungen auch aus dem Regierungslager kommen. Die Grünen, seit Ende 2019 an der Koalition beteiligt, fordern Wöller auf, »angemessene – personelle – Konsequenzen« zu ziehen; Landeschef Norman Volger wirft die Frage auf, ob es diesem »am politischen Willen oder den Fähigkeiten« gefehlt habe, angemessen zu reagieren: »Beides ist nicht hinnehmbar.« Auch Lippmann erklärte, sein Vertrauen in die Führung des Innenministeriums sei »definitiv am Ende«. Für die ebenfalls mitregierende SPD erklärte ihr Generalsekretär Henning Homann, die Versammlung am Samstag sei »zum rechtsfreien Raum geworden«. Verantwortlich dafür sei der Innenminister.

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Allerdings hat Wöller schon mehrere vergleichbare politische Krisen überlebt, zuletzt einen Skandal um Hehlerei mit gestohlenen Fahrrädern bei der Polizei Leipzig sowie die Affäre um eine Materialsammlung über AfD-Politiker bei Sachsens Verfassungsschutz und die Entlassung von dessen Chef. Als Kreischef der CDU in Freital überstand er den Parteiaustritt des Oberbürgermeisters und weiterer CDU-Granden. Möglicher Grund: Wöller hat einflussreiche Verbündete. Er gehörte zu einem Dreigespann »junger Wilder«, die 2004 nach einer CDU-Wahlpleite »hausgemachte Probleme« geißelten und sich gemeinsam auf den Weg an die Macht begaben. Nun sitzen alle drei im Kabinett: neben Wöller der Schulminister Christian Piwarz – und Regierungschef Kretschmer. Die »taz« schrieb dazu: »Wahre Freundschaft soll nicht wanken.« Bisher gilt das auch für Wöller.

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