Corona and the City
Die Folgen der Pandemie für die Städte
Auf einmal waren die Parks und Wälder voller Menschen. Dort, wo sonst verstreut Spaziergänger unterwegs sind und eine Joggerin ihre Runde dreht, schoben sich Ende März während des Corona-Shutdowns auf einmal Menschenmassen durch das aufkeimende Frühlingsgrün. Glücklich alle Städte, die über genügend weitläufige Parks und Wälder verfügten, um den dringend benötigten Freiraum für Frischluft und Bewegung anzubieten. Für ein oder zwei Stunden der eigenen Wohnung zu entfliehen, das bedeutete in dieser beängstigenden Pandemiesituation weit mehr, als nur einmal kurz durchzuatmen. Es erwies sich für viele Menschen als eine Seelendusche.
Ob sich eine solche Situation mit einem zumindest teilweisen Shutdown in den nächsten Wochen und Monaten wiederholt, steht noch dahin. Gewiss ist nur, dass derartige Ungewissheiten bis auf Weiteres unsere stetigen Begleiter während der Pandemie bleiben werden. Was es nicht einfacher macht, mit dieser Ausnahmesituation umzugehen und die massiven Einschränkungen auch von Grundrechten auszuhalten. Trotz aller Ungewissheiten lässt sich bereits jetzt einiges aus der Pandemie lernen. Zu den Erfahrungen gehört das Wissen um das Glück, wenn Städten genügend großzügige Grünflächen vorhalten. Zumal sich in der aktuellen, zweiten Corona-Welle die Krankheit am intensivsten in den großen Ballungsräumen entfaltet. Überall dort steigen die Infektionszahlen besonders rasant, wo viele Menschen leben und die räumliche Dichte hoch ist.
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts war die Anlage von Volksparks mit Spazierwegen und weitläufigen Sport- und Spielflächen eine zentrale Forderung der Reformbewegungen, um die Bewohner der städtischen Mietskasernen mit Licht und frischer Luft zu versorgen. Um 1900 entstanden, waren diese Parks zugleich Teil der Bestrebungen, die Lebensverhältnisse hygienischer zu gestalten. Die meisten Altstädte waren damals keineswegs jene idyllischen Postkartenschönheiten, nach denen wir uns heute unter Ausblendung der damaligen Stadtwirklichkeiten zurücksehnen. »Zilles Milljöh«, das bedeutete vernachlässigte Stadtareale, in denen menschliches Elend und baulicher Verfall das Bild bestimmten. »Meine Herren, ich vergesse, dass ich in Europa bin«, empörte sich der eigens aus Berlin angereiste Bakteriologe Robert Koch 1892 angesichts der katastrophalen Zustände in der Hamburger Altstadt. In dem dicht besiedelten Areal erlagen damals innerhalb weniger Monate 9.000 Einwohner einer Choleraepidemie. Als weitsichtiges Gegenkonzept zu den licht- und luftlosen innerstädtischen Mietskasernen entstanden die Ideen der durchgrünten Gartenstadt und nach dem Ersten Weltkrieg die luftigen Siedlungen der Moderne. Sie verfügten teilweise sogar über eigene Gärten, die zur Selbstversorgung der Bewohner beitrugen und ihnen eine gewisse Autarkie bei der Ernährung boten. Dieser offeneren Stadtgestalt steht heute der städtebauliche Zeitgeist entgegen. Er wird durch die Konzepte der späten Postmoderne geprägt und zielt auf eine bauliche Verdichtung um jeden Preis. Hinter der maximalen räumlichen Grundstücksausnutzung stehen aber keineswegs nur wirtschaftliche Gründe. Angeführt werden ebenso ökologische Aspekte, um einer weiteren Verstädterung der Landschaft entgegenzuwirken. Zudem werden die Verdichtungsprophetinnen und Aufstockungsjünger nicht müde, dichte Städte als Motoren der Kreativität zu lobpreisen. Angesichts der Pandemie und der mit ihr einhergehenden Notwendigkeit einer physischen Distanz zur Ansteckungsminimierung gilt es jedoch, dieses Konzept einer permanenten weiteren Verdichtung von (Innen-)Städten kritisch zu hinterfragen. Stattdessen erscheint es sinnvoll, sie um weniger dichte und vielfältigere Stadtlandschaft zu ergänzen. Großzügige, gepflegte Freiräume eröffnen im Zusammenspiel mit einer weitläufigen, durchgrünten Architektur zusätzliche Qualitäten für die Stadtbewohner, bis hin zum gemeinsamen städtischen Gärtnern.
Wer es sich leisten konnte, der spazierte während des Shutdowns im März nicht nur durch die Parks, sondern erhöhte den Sicherheitsabstand, indem er sich ganz auf das Land zurückzog. Passend dazu erlebte Giovanni Boccaccio, der humanistische Dichter der Früh-Renaissance, sein Comeback. In seinem »Dekameron« erzählte er die Geschichte einer Gruppe junger Florentiner, die vor der Pest 1348 aufs Land flieht, um sich beim Geschichtenerzählen Zeit und Angst zu vertreiben. Und im Frühjahr 2020? Da waren plötzlich viele Innenstädte verwaist, die Restaurants und Geschäfte geschlossen, eine gespenstische Leere lag über der Stadt. Ein Spaziergang durch Berlins Mitte erinnerte mich an den Besuch in einem Karstadt-Kaufhaus, kurz bevor es für immer schließt. Eine leise Wehmut überlagerte den Blick auf den Ramsch der Reste. Was es hier nicht einmal alles gegeben hat. Und wie wenig davon übrig geblieben war. So bloß und leer war auf einmal die ganze Stadt. Fast zerbrechlich wirkte sie. In ihrer Leere zeigten sich die Beschädigungen und Mängel umso deutlicher, weil sie nicht länger vom geschäftigen Treiben überdeckt wurden. Nicht einmal die Berufspendler kamen mehr in ihre Büros. Etliche dürfen bis heute nicht dorthin zurückkehren, aus Angst, dass ein möglicher Hotspot entsteht. Ein Szenario, das verdeutlicht, wie tief sich die Corona-Pandemie eingeschrieben hat. Ihre Folgen werden selbst dann noch fortwirken, wenn die ersten Impfstoffe gegen Covid-19 vorhanden sein sollten. Die Pandemie wirkt wie eine Art Katalysator. Durch sie werden bereits zuvor vorhandene Entwicklungen rasant beschleunigt. Das betrifft nahezu alle Fragen unseres Zusammenlebens und damit ganz zentral die Zukunft von Stadt und Land.
Während die Büros leer blieben, wurde das Homeoffice zum Normalfall. Egal, ob geliebt oder gehasst, ob als Befreiung empfunden oder als Einschränkung. Wer aber von zu Hause aus vor dem Bildschirm arbeitet, der benötigt neben der Hardware und einem schnellen Internetzugang einen ergonomisch befriedigenden Arbeitsplatz in einem separaten Raum. Küchentisch oder Sofa bieten schließlich keine dauerhafte ruhige und rückenschonende Alternative. Wohnungsgrundrisse werden sich daher den veränderten Arbeits- und Lebensbedingungen anpassen müssen. Es braucht neben dem traditionellen Raumprogramm verstärkt Platz zum ungestörten Arbeiten. Das kann ein zusätzlicher Raum in der eigenen Wohnung sein, der freilich mehr bieten muss als eine bessere Besenkammer. Es können aber auch flexibel nutzbare Co-Working-Spaces sein, in entsprechend ausgestatteten Gemeinschaftsräumen der Häuser. Das gilt es auszuloten, je nach Notwendigkeit und individuellen Vorlieben. In jedem Fall aber hat es unmittelbare Auswirkungen auf die Wohnungsgrundrisse, ja auf den Gebäudeplan insgesamt sowie auf die Quartiersstrukturen. Im Gegenzug wird der Trend zum Homeoffice eine Verringerung bei der Nachfrage von Büroräumen nach sich ziehen. Wer dennoch hin und wieder seinen Arbeitsplatz aufsucht, der wird das lange Zeit eher ungeliebte Einzelbüro dem kommunikativeren Großraumbüro gegenüber bevorzugen. Gleichzeitig sind Besprechungsräume größer zu bemessen, um die Abstandsregelungen umzusetzen.
Gut und vor allem natürlich zu belüftende Räume werden unverzichtbar. Das gilt auch für Schulen, die gerade in Berlin seit vielen Jahren verrotten. Der Investitionsstau in der Bildung bei Bauten und Digitalisierung lässt grüßen. Im Wintermantel zu lernen, weil dauernd gelüftet werden muss, stellt für den Schulalltag allerdings keinen gangbaren Weg dar.
Etliche innerstädtische Büroflächen werden künftig brachfallen, mit allen positiven und negativen Folgeerscheinungen. Das reicht vom verringerten Verkehrsaufkommen durch weniger Berufspendler bis zum verringerten Umsatz durch das Ausbleiben eben jener Pendler. Dadurch verschärft sich die Situation zahlreicher deutscher Innenstädte weiter, deren Nutzung und Belebung schon seit Längerem einen Problemfall darstellt. Ursache ist der sogenannte Donut-Effekt. Während der Speckgürtel an den Stadträndern weiterwächst, wird es in den Zentren immer leerer. Das Sterben der Kaufhäuser, die Flaute in den großen Einkaufsmalls, das Siechen des inhabergeführten Einzelhandels sind Zeichen dieses Wandels. Derweil stärkt der durch die Pandemie ausgelöste Digitalisierungsschub die Position der Onlinehändler weiter – neuen Lieferverkehr inklusive.
Zwar hatte sich die Situation in den Städten im Verlauf des Sommers entspannt – und sie wird es im kommenden Sommer erneut tun –, auf den Stand vor Corona werden die Verhältnisse jedoch nicht zurückkehren. Zu tief sitzt der Schock. Mit Erschrecken schaue ich gelegentlich auf Fotos von Konzerten und Veranstaltungen. Dicht an dicht sind da die Menschen gedrängt. Alle ohne Mund-Nasen-Schutz. Aber das geht doch nicht, denke ich! Bis mir klar wird: Das war vor Corona. So schnell und tief hat sich die Erfahrung der letzten Monate eingegraben, hat sich das Denken und Fühlen verändert. Wie sollte es anders sein, als dass sich diese Veränderungen nicht auch in unserer gestalteten Umwelt ausdrücken? Was aber passiert dann künftig mit den Städten und ihren Zentren? Dort bleiben ja nicht nur die Berufspendler und Kunden weg, sondern mit ihnen auch die Touristen, für die in den vergangenen Jahrzehnten ganze Straßenzüge mit Hotels zugepflastert wurden. Mit dem Ausbleiben der Touristen zeigte sich von Venedig bis Lissabon ein Bild, dass es seit den 1980er Jahren nicht mehr gegeben hatte. Keine lange Schlange mehr vor Museen, so sie überhaupt geöffnet haben. Kein Gedränge, nirgends. Ein Idealfall? Ja und Nein. Denn die gesamte auf den Tourismus abgestellte städtische Infrastruktur steht auf einmal vor dem Aus. Der Kampf der Hotellerie ums Überleben scheint längst verloren. Das gilt für die gesamte Reisebranche. Wenn nicht gereist wird, weil auf einmal die meisten Sitzungen in digitalen Formaten von Zoom bis Teams abgewickelt werden, oder weil die Urlaubsreise aus Angst vor Ansteckung gar nicht erst gebucht wird, werden weder Bahn noch Flugzeug gebraucht. Die Umwandlung von Hotelzimmern in Apartments für Studenten bietet auch keine Alternative, wenn die Lehrveranstaltungen digital abgehalten werden. Und was geschieht mit den gewaltigen Messezentren, wenn keine Messen stattfinden? Wer wird mittelfristig die Konzerthallen füllen, die Bibliotheken nutzen und die Museen anschauen, wenn die Besucherzahlen limitiert sind? Und vor allem: Wer wird das alles künftig wovon finanzieren? Gerade der Kulturbetrieb, der sich immer schon mit viel Herzblut, aber wenig Geld am Rand der Selbstausbeutung entlanghangelte, droht in den kommenden Monaten unterzugehen. So viele staatliche Hilfspakete können gar nicht geschnürt werden, um das zu verhindern. All dies wirkt sich unmittelbar in den Städten aus. Norman Foster, Architekt der Berliner Reichstagskuppel, der zu den bekanntest en Architekten der Welt gehört, äußerte jüngst, Covid-19 würde keine langfristigen Auswirkungen auf die Städte haben. Zweifel erscheinen angebracht. Im kommenden Winter wird es ganz sicher leerer in unseren Städten. Heizpilze für die Gastronomie, die um ihr wirtschaftliches Überleben bangt, hin oder her. Wer kann, der wird sich wie in Boccaccios »Dekameron« lieber aufs Land zurückziehen und auf schnelles Internet als Verbindung in die Welt hoffen. Ein Desaster? Die Gefahr ist vorhanden. Doch nur, wenn wir resignieren. Wenn wir unsere Vitalfunktionen minimieren und ansonsten in einen intellektuellen Winterschlaf versinken, aus dem wir erst mit steigenden Temperaturen oder einem Impfstoff langsam erwachen. Nicht jedoch, wenn wir die Pandemie-Krise als Herausforderung begreifen. Dann bietet sie die Chance, mit dem System Stadt auch unser Zusammenleben in den Städten neu zu organisieren, hin zu Orten, die physische Distanz bieten und zugleich soziale Nähe ermöglichen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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