Das Trauma der argentinischen Juden

Rechtsanwalt Miguel Bronfman über den laufenden Prozess zum Anschlag auf das Gemeindezentrum Amia

  • Andreas Knobloch
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist der bis dato schwerste antisemitische Anschlag in Amerika: Bei dem Attentat auf das jüdische Gemeindezentrum Amia in Buenos Aires am 18. Juli 1994 waren 85 Menschen getötet und 300 verletzt worden. Der Gerichtsprozess gegen einen wichtigen Verdächtigen steht kurz vor dem Abschluss. Erklären Sie einem nicht argentinischen Publikum: Worum geht es bei diesem Prozess?

In dem Verfahren, das im Mai 2019 begann, geht es um die Verantwortung von Carlos Telleldín für den Angriff auf das jüdische Gemeindezentrum Amia. Der Angriff wurde mittels einer Autobombe begangen, was zweifelsohne durch Zeugenaussagen und verschiedene Expertenstudien belegt ist. Am 25. Juli 1994, sieben Tage nach dem Angriff und als bereits eine beträchtliche Menge an Trümmern aus dem Gebäude geräumt worden war, fanden israelische Soldaten, die bei der Bergung der Opfer halfen, zusammen mit argentinischen Polizisten den Motorblock eines Kleinbusses der Marke Renault Trafic. Experten bestätigten, dass es sich bei der Autobombe um einen weißen Renault Trafic handelte. Nach der Identifizierung des Motors wurde der Eigentümer des Kleintransporters zurückverfolgt, und so kam man auf Carlos Telleldín, der ihn bis zum 9. oder 10. Juli 1994 in seinem Besitz hatte. Bei diesem Prozess geht es darum, gerichtlich festzustellen, ob Telleldín durch Übergabe dieses Kleinbusses an eine oder mehrere andere Personen an der Tat beteiligt war.

Miguel Bronfman

ist Rechtsanwalt und vertritt das das jüdische Gemeindezentrum Amia in Buenos Aires. Anfang November präsentierten Amia und der Dachverband jüdischer Vereine in Argentinien (Daia) gemeinsam ihr Plädoyer im Fall Carlos Telleldín. Der wird beschuldigt, die Autobombe präpariert und übergeben zu haben, mit der der Terroranschlag gegen Amia am 18. Juli 1994 durchgeführt wurde. Gerade für die jüdische Gemeinde ein wegweisender Moment - nach 26 Jahren könnte es doch noch eine Verurteilung eines Täters in dem Fall geben. Mit Bronfman sprach für »nd« Andreas Knobloch.

Es ist der zweite Prozess gegen Telleldín. Was war das Ergebnis des ersten?

1996 erklärte Telleldín, der zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Jahre inhaftiert war, vor Gericht, er habe den Kleinlaster an eine Gruppe von Polizisten aus der Provinz Buenos Aires übergeben. Vier ehemalige Beamte wurden festgenommen, zusammen mit Telleldín beschuldigt, an dem Terroranschlag teilgenommen zu haben, und vor Gericht gestellt. Der Prozess fand von 2001 bis 2004 statt. Dort wurde festgestellt, dass Telleldín als Gegenleistung für diese Erklärung Geld erhalten hatte. Das Gericht hob die vorherigen Ermittlungen auf und sprach alle Angeklagten frei.

Das Gemeindezentrum Amia und die Daia, die Dachorganisation der jüdischen Gemeinde Argentiniens, legten Berufung ein, bis hin zum Obersten Gericht, das 2009 den Freispruch für die ehemaligen Polizeibeamten bestätigte, jedoch befand, es gebe berechtigte Beweise, um Telleldín nochmals vor Gericht zustellen. Die Justiz brauchte zehn Jahre, um den neuen Prozess gegen Telleldín einzuleiten, und tat dies vor allem auf Drängen von Amia und Daia.

Worum ging es bei der Anhörung Anfang November?

In diesem zweiten Prozess ist die Beweisaufnahme bereits beendet, das heißt: jener Teil, in dem die Zeugen vor Gericht aussagen und die Parteien Fragen stellen, Fachleute geladen und Dokumente ausgewertet werden. Nun beginnen die Plädoyers, wo die Anwälte die Beweise analysieren und in unserem Fall Antrag auf Verurteilung des Angeklagten stellen. Amia-Daia war Anfang November die erste Partei, die ihr Plädoyer gehalten hat.

Sie haben in Ihrem Plädoyer 20 Jahre Gefängnis für den Autoschieber Carlos Telleldín gefordert. Welche Rolle spielte er bei dem Angriff?

Zunächst möchte ich klarstellen, dass es nicht korrekt ist, Telleldín als einen einfachen Autoschieber zu beschreiben. Telleldín hat auf der einen Seite eine Laufbahn in allen vorstellbaren Bereichen: Frauenhandel, Dollarfälschung, Schmuggel, Diebstahl und Umbau von Fahrzeugen usw. Um all diese Aktivitäten im Laufe der Jahre durchführen zu können, hatte er stets gute Kontakte zu Angehörigen der Sicherheitskräfte, insbesondere zur Polizei der Provinz Buenos Aires.

Andererseits war er selbst ein oder zwei Jahre lang Geheimdienstagent der Polizei in der Provinz Córdoba. Eine weitere wichtige Tatsache ist, dass sein Vater Pedro Telleldín während der Militärdiktatur Leiter der Geheimdienstabteilung der Polizei von Córdoba war. Er war ein unheimlicher Unterdrücker, der nur vor dem Prozess gerettet wurde, weil er 1983 bei einem Autounfall starb, gerade als die Demokratie nach Argentinien zurückkehrte. Telleldín Sr. wird in dem berühmten Bericht »Nunca Más« (deutsch: Nie wieder) erwähnt …

… in dem die Ergebnisse der 1983 ins Leben gerufenen Nationalen Kommission über das Verschwinden von Personen (Conadep) zusammengefasst und der am 20. September 1984 an Präsident Raúl Alfonsín übergeben wurde. Der Bericht bildet bis heute die Grundlage für zahlreiche Gerichtsverfahren gegen Mitglieder der Militärjunta.

Es gibt zahlreiche Zeugenaussagen, dass Telleldín Sr. nicht nur ein grausamer Folterer war, sondern auch ein Antisemit, da jüdische Opfer besonders unter seiner Gewalt litten. Es ist auch verbrieft, dass er Anhänger der Nazis war und Nazi-Erinnerungsstücke gesammelt hat. Nachdem das klar ist, verstehen wir, dass Telleldín den Kleinlaster präpariert und übergeben hat, in dem Wissen oder zumindest sich der Möglichkeit bewusst, dass der für eine Explosion verwendet werden und dass diese Explosion zum Tod von Menschen führen würde.

Als die Ermittler, nachdem sie den Motor gefunden hatten, ihm auf die Spur kamen, war er in die Provinz Misiones geflohen, an der Grenze zu Paraguay, weil er bereits seit einigen Tagen wusste, dass sein Lastwagen die Autobombe gewesen war. Als er schließlich verhaftet wurde, lieferte er falsche Versionen voller Lügen, die während der Ermittlungen aufgedeckt wurden. Es ist offensichtlich, dass seine Lügen verbergen, wem er den Kleinlaster wirklich übergeben hat, und dass er die Wahrheit nicht sagen kann, weil die Wahrheit ihn selbst kompromittieren würde.

Welche Rolle spielte der Iran?

In den gerichtlichen Ermittlungen gibt es Hinweise darauf, dass der Angriff vom Iran mit Hilfe der libanesischen Hisbollah entschieden, geplant und durchgeführt wurde. Aus diesem Grund gibt es heute internationale Haftbefehle gegen frühere Funktionäre der damaligen iranischen Regierung sowie gegen ehemalige Beamte der iranischen Botschaft in Buenos Aires, insbesondere gegen den Ex-Diplomaten Mohsen Rabbani, der einer der Hauptverantwortlichen des Anschlags war.

Wie geht es in dem Verfahren weiter?

Vor wenigen Tagen hielt der Anwalt, der eine Gruppe von Angehörigen der Opfer vertritt, sein Plädoyer; jetzt folgt die Staatsanwaltschaft. Die Verteidigung wiederum hat die Möglichkeit, ihr Plädoyer in der zweiten Runde zu halten, um alle Anschuldigungen zu beantworten. Sobald dies geschehen ist, ist das Gericht in der Lage, sein Urteil zu fällen und den Angeklagten zu verurteilen oder freizusprechen. Wir erwarten ein Urteil bis Ende dieses Jahres oder Anfang 2021.

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