EZB im ewigen Krisenmodus
Experten erwarten weitere Maßnahmen der Zentralbank gegen die Coronakrise
Dem Euroraum droht ein wirtschaftlich hartes Winterhalbjahr. In Deutschland ist der Ifo-Geschäftsklima-Index für den Einzelhandel deutlich gefallen. In Frankreich, das einen umfassenden Lockdown verhängt hat, ist der Wirtschaftsindex um fast zehn Prozent eingebrochen. Und die Industriestaatenorganisation OECD erwartet in ihrem neuen Wirtschaftsausblick, dass der Euroraum Ende 2021 noch weit hinter den Vor-Corona-Zahlen zurückbleibt. Der Druck auf die Europäische Zentralbank (EZB) nimmt zu.
Wenig ermutigend sind zudem die Inflationszahlen, an denen sich die Geldpolitik der EZB messen lassen muss: Um 0,3 Prozent sind die Preise in der Eurozone im November gefallen. Dabei hat die Zentralbank eine Inflationsrate von »unter, aber nahe zwei Prozent« als Ziel. Vor diesem Hintergrund tagt am Mittwoch und Donnerstag der EZB-Rat. Die Mehrzahl der Analysten erwartet, dass Präsidentin Christine Lagarde in der kommenden Woche einschneidende Maßnahmen verkünden wird.
Die enge Kooperation zwischen Notenbankern und Finanzministern wird fast durchweg gelobt. Vor der Coronakrise wäre dies noch undenkbar gewesen, denn faktisch verstößt die EZB gegen die Trennung von Geld- und Fiskalpolitik, wie sie das Gründungsdokument der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, der Vertrag von Maastricht, vorsieht.
Um die gewaltigen Corona-Hilfen zu stemmen, verschulden sich die EU-Staaten und nun auch die EU in bislang ungekanntem Ausmaß. Gleichzeitig sorgen die extrem niedrigen Leitzinsen der EZB dafür, dass diese Staatsverschuldung praktisch zum Nulltarif zu haben ist. Ergänzend kauft die EZB mittlerweile auch noch in großem Umfange Staatspapiere. Formal tut sie dies auf dem Zweitmarkt, betreibt also keine (verbotene) direkte Staatsfinanzierung. Tatsächlich liegt zwischen dem Verkauf der Wertpapiere durch die Finanzministerien in Berlin, Rom oder Madrid an Banken, von denen die EZB sie erwirbt, nur ein Computerklick.
In den meisten westlichen Ländern kümmern sich weitgehend unabhängige Zentralbanken um eine niedrige Inflationsrate von etwa zwei Prozent. Dagegen müssen Finanzminister ohne Zugriff auf die Notenpressen ihre Haushaltsdefizite begrenzen, um nicht das Vertrauen der Käufer ihrer Staatsanleihen zu verlieren. Soweit die Theorie, doch die Praxis sieht eben anders aus.
Die Vertreter der gerade populären Modern Monetary Theory begrüßen es, dass sich die Finanzminister faktisch fast nach Belieben über die Notenpresse finanzieren, um die Corona-Folgen abzufedern. Der eher linke Nobelpreisträger Paul Krugman befürchtet dagegen eine »Voodoo-Ökonomie«.
»In der Realität sind wir noch nicht bei dieser Rollenverteilung«, meint Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. Zwar finanzieren die Zentralbanken so die Staaten - gerade in der Coronakrise. »Aber das ist noch Ausdruck einer freiwilligen Kooperation zwischen den Zentralbankern und den Finanzministern.«
Doch kann das auf Dauer funktionieren? Wenn irgendwann die Verbraucher- oder Vermögenspreise sehr stark steigen, könnte die EZB vor notwendigen Zinserhöhungen zurückschrecken, um an den Staatsanleihenmärkten einen Kollaps zu verhindern, der wiederum die Existenz der Währungsunion gefährden könnte. Was die EZB in ein Dilemma stürzte: Solange die Zinsen nahe Null sind, sinkt die Schuldenquote der Staaten nämlich gewissermaßen automatisch.
Lagarde muss noch eine weitere Baustelle im Blick haben. So ist die EZB auch für die Aufsicht der hundert größten Banken zuständig. Die dramatischen Umsatzeinbrüche einiger Sektoren werden unweigerlich dazu führen, dass viele Firmen ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen können. Die Kreditausfälle könnten Banken selbst in Existenznöte stürzen. »Es ist klar, dass die Banken durch die Re-Regulierung nach der Finanzkrise 2008/2009 viel solider aufgestellt sind«, schreibt Reint E. Gropp, Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, »aber trotzdem übersteigt die Tiefe der Rezession selbst die pessimistischsten Stresstests um einiges«.
Man wisse aus der Finanzkrise, dass Banken, die unter Druck geraten, zweierlei tun: Einerseits suchen sie das Risiko, um sich durch höhere Erträge aus der Krise zu befreien, andererseits reduzieren sie die Kreditvergabe. Gropp dazu: »Das könnte dann gerade zu dem Zeitpunkt der Fall sein, wenn die Unternehmen besonders viele Kredite brauchen, wenn nämlich die Coronakrise vorbei ist und sie wieder investieren wollen.« Dies könnte die Erholung 2021 abwürgen. Hier müssten EZB, Aufsicht und Politik rechtzeitig gegensteuern.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.