- Politik
- Lübcke-Prozess
Sonderbare Spaziergänger
Neue Aussage bringt im Verfahren zum ermordeten CDU-Politiker Lübcke Mittäter wieder ins Spiel
Seit fast sechs Monaten wird vor dem Frankfurter Oberlandesgericht über den Mord an Walter Lübcke verhandelt, doch ein Fragezeichen ist trotz nunmehr 37 Prozesstagen nicht kleiner geworden. Es steht hinter der Rolle, die Markus H. gespielt hat, der langjährige Freund und rechtsextreme Kamerad des mutmaßlichen Haupttäters Stephan Ernst.
Angeklagt ist der 44-Jährige wegen Beihilfe zum Mord. Ernst dagegen bezichtigt ihn der Mittäterschaft: Markus H. habe das Attentat auf den Kasseler Regierungspräsidenten mit ihm zusammen geplant und begangen, als treibende Kraft sogar. Das glaubt auch die Familie des getöteten CDU-Politikers. Das Gericht aber sieht mangels Beweisen schon länger keinen dringenden Tatverdacht mehr gegen den militanten Neonazi und hat ihn Anfang Oktober aus der Untersuchungshaft entlassen. So weit, so umstritten.
In dieser Woche nun bekam die Auseinandersetzung um die Rolle von Markus H. neues Futter. Christoph Lübcke, der ältere der beiden Söhne des Ermordeten, berichtete im Zeugenstand von einer sonderbaren Begegnung in Wolfhagen-Istha - jenem Dorf im Kasseler Umland, in dem Walter Lübcke am 1. Juni 2019 auf der Terrasse seines Hauses erschossen wurde. Und in dem, nur drei Häuser entfernt, auch Christoph Lübcke wohnt.
Als er eines Nachmittags im Frühjahr 2018 mit dem Vater vor seinem Haus stand und redete, seien zwei unbekannte Männer des Weges gekommen, erzählte der 36-Jährige. Der eine größer und schmaler, der andere etwas kleiner, mit einem rundlichen Gesicht, Bart und einer Miene, die ihn wegen des »fixierenden Grinsens« an eine Guy-Fawkes-Maske erinnert habe. »Wir fühlten uns angestarrt«, sagte Christoph Lübcke. Selbst sein mit Kommentaren sonst eher zurückhaltender Vater habe hinterher so etwas gesagt wie: »Was waren das für skurrile Personen?«
Die Beschreibung der beiden Männer passt zu Stephan Ernst und dem auch vor Gericht immer wieder feixenden Markus H. Und die beschriebene Szene könnte etwas bestätigen, was auch Ernst gesagt hat: dass er 2018 zusammen mit dem Mitangeklagten in Istha gewesen sei, um den Ort auszukundschaften, und dass sie dabei den ihnen so verhassten, weil flüchtlingsfreundlichen Regierungspräsidenten im Gespräch mit einem Nachbarn gesehen hätten. Aus nächster Nähe. Bislang gab es für einen solchen gemeinsamen Besuch der beiden Angeklagten in Lübckes Heimatort keinen Beleg.
Gibt es ihn jetzt? Am Donnerstag zeigte Stephan Ernst auf einem Luftbild von Istha, wo er und Markus H. an jenem Nachmittag Walter Lübcke gesehen hätten. Es war die Kreuzung, an der das Haus des Sohnes steht. Und auch auf Fotos, die die Polizei auf Bitten des Gerichts kurzfristig von Häusern in Tatortnähe gemacht hatte, erkannte er das Anwesen von Christoph Lübcke als den Ort des Zusammentreffens. Es war allerdings auf den 23 vorgelegten Bildern auch gleich mehrfach vertreten.
Der größere Haken jedoch ist: Die Aussage des Lübcke-Sohns kommt spät. Im Sommer, während des laufenden Prozesses, will er sich wieder erinnert haben, doch dem Gericht sagte er nichts davon. Nur Holger Matt, den Anwalt der Familie, informierte er. Und der wartete ab, ließ Christoph Lübcke weiter hören, was Stephan Ernst erzählte, auch über die Begegnung in Istha, gab ihm wochen- und monatelang Zeit, die Erinnerung mit dem Bild der Angeklagten im Gerichtssaal abzugleichen. Der Beweiswert einer Aussage wird dadurch, um es vorsichtig auszudrücken, nicht unbedingt größer.
Björn Clemens, Verteidiger von Markus H. und selbst rechter Aktivist, wischte die Geschichte von den skurrilen Spaziergängern denn auch gleich als wenig glaubhaft vom Tisch. Sogar eine zwischen den Verteidigern von Stephan Ernst und der Nebenklage abgesprochene Aussage unterstellte er: »Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Angaben passgenau abgestimmt sind.« Sein Gegenüber Mustafa Kaplan sah das, ebenso wenig überraschend, ganz anders: Für den Anwalt von Stephan Ernst ist es »zwangsläufig«, dass sein Mandant und Christoph Lübcke von derselben Szene berichtet haben. Das Gericht kommentierte all das nicht.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!