Was hat uns nur so ruiniert?
Lehren aus vergeblichen Kämpfen um Arbeitszeitverkürzung, die noch heute wichtig sind
»Samstags gehört Vati mir!« Diese als Behauptung vorgebrachte Forderung des DGB symbolisiert gewerkschaftliche Kämpfe um Zeit in all ihrem Glanz und Elend. Noch immer – was schon mitten ins Elend führt, denn tatsächlich stammt der altmodische Satz aus dem Jahr 1956. Wie schön wäre es, ließe sich die spießige Verstaubtheit von Sprache und Weltbild heute einfach nur belächeln, bemitleiden oder anderweitig in die Restmülltonne der Geschichte befördern. Geht aber leider nicht. Denn auch wenn Vati inzwischen Paps, Daddy oder Lukas heißt, kümmert er sich statistisch gesehen höchstens einen Tag pro Woche um die Kindererziehung. An welchem, das ist heute weit weniger ausgemacht als vor 50 Jahren. Fast ein Viertel der Erwerbstätigen arbeitet laut Statistischem Bundesamt 2019 regelmäßig auch am Samstag . Immerhin, und das gehört nun zum Glanz, eignet sich die Forderung nach mehr Zeit heute wieder mindestens so gut als Kampfparole wie die nach mehr Geld oder weniger Leistung. Wirklich trennen lassen sich die drei ja sowieso nicht, eher sind sie so unendlich verbunden wie im zeitlosen Spiel Stein-Schere-Papier. Was da gerade schleift, schneidet oder einwickelt, ist selbstverständlich, anders als im Spiel, keine Frage des persönlichen Glücks, sondern der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dabei, so der Soziologe Steffen Liebig, komme Kämpfen um Zeit eine besondere Funktion zu als Scharnier zwischen klassischer Gewerkschaftspolitik und sozialen Bewegungen. Was passiert, wenn es hier klemmt, zeigt ein Blick in die BRD-Nachkriegsgeschichte.
Als die Vati-Plakate am 1. Mai 1956 in der Wirtschaftswunder-BRD hochgehalten wurden, lag der gesetzliche Urlaubsanspruch bei drei Tagen im Jahr und in fast allen Branchen galten Wochenarbeitszeiten von 48 Stunden. Von dem Geld, das dabei verdient wurde allerdings, konnten dann auch meist ein zweiter Erwachsener und ein paar Kinder mit ernährt werden. Jedenfalls, solange der Verdiener vom Tarifvertrag nicht in eine Frauenlohngruppe sortiert wurde, und natürlich nur wenn dort, wo gearbeitet wurde, Tarifverträge galten. Was allerdings allein in der Metall-und Elektroindustrie an die 10.000 Betriebe waren. Angesichts guter Konjunkturdaten konnten die Erwerbsmänner also selbstbewusst beschließen, dass sie fürs gleiche Geld künftig weniger arbeiten wollten. Noch mussten sie nicht befürchten, dass ihnen die Bosse im Gegenzug sofort höhere Produktivität abverlangen, denn das gaben weder die Lieferketten noch die Maschinen oder die Absatzmärkte her. Wozu sie die gewonnene Zeit am Samstag dann tatsächlich verwendeten, ob für Familienausflug, Stammtisch oder Bundesliga, war zwar Anlass für Ehekräche, nicht aber für gesellschaftliche Debatten.
Wann Vatis Chef seiner Forderung nachgab, hing stark von seinem Berufsfeld ab: Für Steinkohle-Kumpel gab es schon 1959 die 5-Tage-Woche. In den folgenden zwei Jahren auch für Versicherungen und Banken, dann in der Holzverarbeitung und erst 1969 in der Druckindustrie. Nach ähnlichem Muster wurde dann ab 1967 die 40-Stunden-Woche durchgesetzt: Zuerst in der Metallindustrie und zuletzt, 1983, in der Landwirtschaft. Wobei die Hochöfen natürlich trotzdem auch am Samstag loderten, Druckerpressen rotierten und Kühe gemolken wurden, aber es war für den jeweiligen Unternehmer eben teurer, weil er Zuschläge bezahlen musste. Was die dafür aus gutem Grund Streikenden übersahen: dass weder die Hausfrau noch die Hafenhure für ihre selbstverständlich und gerade auch wochenends und nachts nachgefragte Dienstleistung Sonderzulagen erhält. Ignoranz, die sich noch bitter rächen sollte – später, als das Wirtschaftswunder längst zur Ölkrise geworden war.
Unternehmen mussten mehr für Rohstoffe ausgeben, also wollten sie für Arbeit weniger bezahlen und die Fortschritte in Automatisierungstechniken halfen ihnen dabei, weil sie wirkungsvoll mit Entlassungen drohen konnten. Folgerichtig überschreibt der DGB in seiner Kurzchronik aus sieben tarifpolitischen Jahrzehnten die 70er Jahre mit »Konzentration auf Rationalisierungs- und Einkommensschutz«. Anders formuliert: Wer sich gegen Lohnkürzungen zur Wehr setzte und gleichzeitig verhindern wollte, dass fürs gleiche Geld mehr Leistung verlangt wird, konnte nicht auch noch mehr lohnarbeitsfreie Zeit zu fordern. Nachvollziehbar, aber doch auch Symptom eines gewissen Vati-Tunnelblicks: Schließlich erhoben in den gleichen 70er Jahren nicht gerade wenige Frauen weltweit und auch in der kleinen BRD unüberhörbare Forderungen nach fairer Verteilung von Erwerbs- und Hausarbeit zwischen den Geschlechtern – was ja nur einen ganz anderen Umgang mit der Lebenszeit bedeuten konnte. Aber eben noch lange nicht musste.
Stattdessen begann, was bis heute das ebenso kleine wie bürgerliche westdeutsche Modell ist: Frauen arbeiten Teilzeit und hetzen dann zu Kindern und anderem Gedöns, Männer arbeiten Vollzeit und hängen auch noch Überstunden am Samstag dran, wenn das Projekt keinen Aufschub duldet oder der Chef es fordert. Also fast immer. Auch dieses sehr aktuelle Elend der permanenten Verfügbarkeit hat schon damals seinen Anfang genommen. Trotz der »35 Stunden sind genug«-Plakate, die im folgenden Jahrzehnt bei zahlreichen Kundgebungen, Streiks und Kongressen in die Kameras von ARD und ZDF gehalten wurden. Obwohl und während Tarifverträge je nach Branche Ansprüche auf 30 Tage Jahresurlaub, längere Ruhezeiten im Schichtbetrieb und andere gute Sachen festschrieben. Denn gleichzeitig setzten diejenigen, die Arbeitgeber genannt werden, unzählige Abweichungen von den doch eigentlich als Norm gedachten Tarifregelungen durch: Öffnungsklauseln, Betriebsvereinbarungen, Sonderregelungen für die hohen und die niedrigen Lohngruppen. Wahlweise mit Verweis auf die Konkurrenz im Ausland, die Konsumenten im Inland oder die Konjunktur ganz allgemein – was ja immer schwer zu entkräften ist. Erst recht, wenn der Betrieb so klein ist, dass er zu der schützenswerten Gattung »Klein- und Mittelstand« zählt, und deshalb weder Tarifvertrag noch Betriebsrat braucht. Auf diese Weise entstanden so viele Ausnahmen, dass 1995, als dann in den westlichen Bundesländern in der Druck- und Metallindustrie tatsächlich die 35-Stunden-Woche eingeführt wurde, selbst unter den Vatis viele achselzuckend dachten, »schön für euch«, und nicht mehr: »schön für uns«. Die gewerkschaftsoffizielle Reaktion erklärte die allgemein menschliche Fähigkeit, den jeweils eigenen Weltausschnitt für das Ganze zu halten, zur Strategie mit dem Argument: »Je mehr wir für unsere Mitglieder rausholen, umso attraktiver wird es doch, bei uns einzutreten.« Derartige Klientelpolitik passte so perfekt zum herrschenden CDU-FDP-Leistung-muss sich-wieder lohnen-Gesellschaftsbild, dass der Unterschied zwischen der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft und der in einem Fitnessstudio oder beim ADAC immer unklarer wurde. Entsprechend entwickelten sich die Zahlen und damit die Kampfkraft – erst recht nach dem Ende des offiziellen Staatssozialismus, als Unternehmen Produktionsverlagerung um die halbe Welt androhen konnten. 1991 hatten die DGB-Gewerkschaften zusammen genommen noch knapp 12 Millionen Mitglieder, im Jahr 2000 waren es keine 8 Millionen mehr und heute liegt die Zahl bei knapp 6 Millionen. Arbeiteten 1995 im Westen noch gut 70 Prozent der Erwerbstätigen und im Osten 56 Prozent in Betrieben mit Tarifbindung, so lagen die Werte 2014 nur noch bei knapp 50 und 37 Prozent. Betriebsräte gab es schon im Jahr 2000 sowieso nur in 12 Prozent aller Unternehmen, in denen das theoretisch möglich wäre, weil sie mehr als fünf Mitarbeiter haben.
Vor diesem Hintergrund muss die Entscheidung der IG Metall, 2003 mal wieder für Arbeitszeitverkürzung zu streiken, als Ausdruck fortgeschrittenen Realitätsverlustes gewertet werden. Ausgerechnet im Osten, wo die Arbeitslosigkeit hoch, die Löhne niedrig, die Existenzängste groß und der durchschnittliche Organisationsgrad gerade mal 10 Prozent betrug. In der vierten Streikwoche, so schreibt es der Arbeitssoziologe Rudi Schmidt 2003, »waren gerade einmal zehn Betriebe mit 8.000 Beschäftigten in den Streik einbezogen. Eskalationsmöglichkeiten zur Erhöhung des Streikdrucks bestanden nicht«. In einzelnen Werken sei die Zahl der Streikbrecher zu diesem Zeitpunkt auf ein Drittel der Belegschaft angewachsen. Noch nicht mal mit den Kollegen in Baden-Württemberg hatte man sich abgesprochen, wo sich die Betriebsräte der Autokonzerne über Kurzarbeit und Lohnkürzungen beschwerten, weil ihnen der Nachschub der Zulieferer ausging. Die Folgen des Fiaskos: Haus- statt Flächenverträge in der ostdeutschen Metallindustrie, eine Stunde Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich im Bauhauptgewerbe im Folgejahr, erste bundesweite Tarifverträge zur Leih- und Zeitarbeit, Verkürzung der vorgeschriebenen Mittagspause auf 30 Minuten. Alles was sich Unternehmer und Kapitaleigner schon lange gewünscht hatten, musste von nun an nicht mehr im Hinterzimmer ausgedealt, sondern konnte schamlos in jeder Talkshow als das einzig wahre, alternativlos Vernünftige erst behauptet und dann auch einkassiert werden. Ganz offiziell ist von nun an nicht mehr Vatis gutes altes berechenbares Arbeitszeitmodell die Norm, sondern eher das der Hafenhure oder Hausfrau.
Wie ein drängelnder Freier oder ein quengelndes Kleinkind hat Erwerbsarbeit mittlerweile das Recht auf unmittelbare Beachtung und sofortige Befriedigung. »Atmende Betriebe, Atemlose Beschäftigte« überschreibt die Hans-Böckler-Stiftung schon 2004 einen Bericht über den Umgang mit flexiblem Arbeitszeitstress, der, und hier bietet sich dann doch die Chance auf ein wenig Glanz, mittlerweile das Zeug zu einer wahrhaft verbindenden kollektiven Erfahrung hat. Leider in einer Zeit, in der die gewerkschaftlichen Methoden zu deren Bearbeitung kaum noch allgemeingültig sind oder öffentlich wirksam werden. Die guten, manchmal sogar sehr guten Vereinbarungen zur Rettung von Zeit vor den Zumutungen der Erwerbsarbeit, die noch immer im ein oder anderen Betrieb des ein oder anderen Sektors mühsam ausgehandelt werden, sind heute beinahe so privat wie früher das, was Vati mit seinem freien Samstag machte.
Weshalb auch die von der IG Metall in der Tarifrunde 2017/18 ausgehandelten Arbeitszeitoptionen nicht sonderlich viel Medien- Aufmerksamkeit bekamen: Alle Beschäftigten haben das Recht, ihre Wochenarbeitszeit für 6 bis 24 Monate auf bis zu 28 Stunden abzusenken. Währenddessen nehmen sie zwar Lohneinbußen in Kauf, haben aber auch jederzeit das Recht, wieder auf ihre ursprüngliche Stundenzahl aufzustocken. Wer durch Kindererziehung, Pflege oder Schichtarbeit besonders belastet ist, hat Anspruch auf acht zusätzliche freie Tage als Alternative zum vereinbarten »tariflichen Zusatzgeld«. Damit, so der Soziologe Klaus Dörre, politisiere die Gewerkschaft einen weiten Arbeitsbegriff, indem sie die Forderung nach Arbeitsverkürzung mit der faktischen Aufwertung anderer Tätigkeiten verbinde. Tatsächlich werden die Zeitoptionen in Anspruch genommen, sogar von Männern, so dass mittlerweile auch bei Eisenbahnern und Postlern ähnliche Tarifverträge gelten. Besser spät als nie, und maßgeblich vorangetrieben durch die Hartnäckigkeit der IG-Metall-Vorstandsfrau Katrin Mohr, ist der Blick über den Vati-Tellerrand doch noch gelungen.
Damit es in Zukunft nicht mehr ganz so lange dauert, hat Steffen Liebig schon mal untersucht, inwieweit sich gewerkschaftliche Zeitforderungen nicht nur mit feministischen Care-Ansätzen verbinden lassen, sondern auch mit der notwendigen ökologischen Transformation. Frei nach dem Motto: Klimaschädigende Produktion reduzieren, verbleibende Arbeit umverteilen. Den großen Vorteil eines solchen Bündnisses sieht er darin, dass die Klimabewegung über Kommunikationsmacht verfüge, die den Gewerkschaften weitgehend fehle, während jene noch immer Streikmacht besitzen – zumindest prinzipiell. Gemeinsam und klug eingesetzt könnte damit vielleicht doch noch mal so etwas wie eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung erkämpft werden. Oder analog zur immer nur von oben verordneten Kurzarbeit vielleicht eine individuell einklagbare bedingungslose Grundzeit. Vorausgesetzt natürlich, wir müssen sie uns in den Zeiten nach Corona nicht gleich wieder abkaufen lassen.
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