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Der Glücksdrache und das Geheimnis der Schneeflocken
Wie das Land Phantasia in heutigen Kinderbüchern immer wieder lebendig wird
Wo kommt ihr den her?«, fragt Liane. »Aus dem Land der Geschichten«, sagt Zeliş. Blaue Haare hat sie und riesige rosafarbene Augen. Neben ihr steht ihr rundlicher Bruder Asutay, der stottert und noch eine wichtige Rolle im Buch spielen wird. Ob die türkische Autorin Elif Shafak wohl »Die unendliche Geschichte« von Michael Ende kennt, in der das Land »Phantasia« gerettet werden muss?
Sie ist in Strasbourg geboren, hat aber auch in Ankara, Madrid und Amman gelebt und wohnt inzwischen in London. Gleich, wo ihr Buch spielt, überall ist »Phantasia« in Gefahr, wenn Kinder nur noch vor Computerspielen sitzen oder fernsehen, sich also mit Fertigprodukten zufrieden geben. Bücher indes verlangen mehr: Vom Entziffern eines Textes bis zum vielschichtigen Verstehen vollzieht sich ein schöpferischer Prozess von geradezu magischer Kraft. Aus einer Anordnung von Buchstaben entstehen lebendige Bilder. Die Textvorgabe wird so in gewisser Weise zu einer ganz eigenen Inszenierung, die eine Verbindung eingehen kann mit allem, was man vorher fühlte, wusste. So kann man bei Elif Shafak Säcke voller Buchstaben sehen. »Die müssen wir so bald wie möglich in unser Land bringen«, sagt Zeliş. »Dort werden aus den Gedanken neue Geschichten und Gedichte entstehen, und die verbreiten sich dann überall auf der Welt.«
Durch die Seiten eines Buches ist doch auch Bastian Balthasar Bux aus der Unendlichen Geschichte in das Land »Phantasia« gelangt. Sein treuer Begleiter, der Drache Fuchur, hat im Film einen Kopf wie ein freundlicher weißer Bernhardinerhund. Denn ein echter Glücksdrache würde uns eher erschrecken. Den gibt es aber wirklich in der chinesischen Mythologie. Shenlong, der heilige Drache, ist ein majestätisches, hilfreiches Wesen, mit schimmernden blauen Schuppen bedeckt. Dadurch ist er schwer zu erkennen, wenn er über den Himmel schwebt. Unbedingt muss man ihm Respekt entgegenbringen, sonst bleibt der so wichtige Regen aus.
»Mythopedia. Die Welt der Fabelwesen und ihrer magischen Geschichten« - geradezu euphorisch werden lässt einen dieser Band, der über alle Kontinente führt. Es beginnt mit Quetzalcoatl, der gefiederten Schlange aus der Überlieferung der Azteken, diesem Gott des Lichts und des Windes, der die heutigen Menschen erschuf, und endet mit Abaia aus der Mythologie Melanesiens, einer Inselgruppe im südwestlichen Pazifik. Dabei handelt es sich um einen riesigen Aal, der alle Tiere eines Sees beschützt. Weil er sie als seine Kinder betrachtet, bestraft er alle, die ihnen Böses tun. Im Märchen »Der Abaia und die alte Frau« wird so auf der Insel Fidschi ein ganzes Dorf vernichtet. Nur eine alte, weise Frau kann überleben.
In vielen Mythen und Legenden sind es interessanterweise Tiere, die Menschen zur Achtung gegenüber der sie umgebenden Natur ermahnen. Sie kommen ihnen zu Hilfe wie der Donnervogel als mächtiges Totemtier der Ureinwohner Nordwestamerikas. Sie sind aber auch Verkörperung von Ängsten. Wie Zerberus, der dreiköpfige Wachhund der Unterwelt in den altgriechischen Sagen, von Herakles besiegt wurde, ist hier zu lesen. In der nordischen Mythologie stiftet Ratatoskr, ein boshaftes rotes Eichhörnchen, Unruhe, indem es Gerüchte streut. In Westafrika war es die Spinne Anansi, die den Menschen die Geschichten brachte. Und die Chinesen verehren seit jeher Fenghuan, den geheimnisvollen schönen Vogel des Friedens und der Freude.
37 solcher Fabelwesen sind in diesem großformatigen Buch nicht nur erklärt, sondern auf eine selbst schon fabelhafte Art in leuchtenden Farben auch gemalt. Good Wifes and Warriors - hinter diesem rätselhaften Künstlernamen verbergen sich zwei junge Frauen aus Großbritannien, Becky Bolton und Louise Chappell, die das Buch zum Kunstwerk gemacht haben. Es sei perfekt für Gute-Nacht-Geschichten und für Schulprojekte, meint der Verlag. Schon Zehnjährige werden es mögen, mehr noch werden es vielleicht ihre Eltern und Großeltern schätzen können. Wenn ein Riesenkrake döst, heißt es in »Mythopedia« haben ihn Seefahrer manchmal mit einer Insel verwechselt. Im Roman »20 000 Meilen unter dem Meer« von Jules Verne wird ein stählernes Objekt für ein Meeresungeheuer gehalten, später taucht aber tatsächlich eine furchteinflößende Krake auf und hätte das Unterseeboot beinahe in die Tiefe gezogen. Ein Unterseeboot? So etwas gab es bei Erscheinen des Romans 1870 noch nicht. Mit seiner Phantasie hat der französische Autor eine technische Entwicklung vorweggenommen - und eine heutige Warnung. Denn Kapitän Nemo will sich mit seiner »Nautilus« den Feindschaften und Kriegen auf Erden entziehen, verbirgt seine Erfindung aus Angst vor Missbrauch. Verständlich, dass er Professor Aronnax und Ned Land, die er rettete, nicht wieder weglassen will.
Im gleichnamigen Bilderbuch wird die Geschichte für Kinder auf gekonnte Weise gerafft erzählt. Und das beste: Es liegt eine CD bei - ein Hörspiel, in dem der Komponist Henrik Albrecht seine Jules-Verne-Adaption zu einer Orchestererzählung macht. »Die Pracht und Weite des Meeres wird mit Musik dargestellt. Die Blechbläser schmettern und die Streicher wogen in Wellenbewegungen hin und her ...« Auf jeder Buchseite gibt es, kursiv gedruckt, solche Musik-Erklärungen für aufmerksameres Hören. »Der Mensch ist nur ein winziger Teil dieses Planeten«, heißt es am Schluss. »Und wenn wir die Erde bewahren wollen, müssen wir lernen, die Wunder unserer Welt zu sehen, ganz gleich ob über oder unter Wasser.«
Die Wunder - darum geht es. Dass wir die Fantasie in uns wachsen lassen und bei allem Vorwärtsstreben das Staunen nicht verlernen. Das Staunen über etwas, das größer ist als wir selbst. Da hat der Sohn eines Farmers aus Vermont erst Blätter gesammelt, dann Steine, deren besondere Äderung ihn faszinierte. »Du verkriechst dich und verträumst dein Leben«, monierte der Vater. Da wollte sich Wilson Bentley mehr Mühe geben mit den praktischen Dingen, doch immer wieder wurde er durch eine neue Entdeckung abgelenkt. Schließlich ist es der Zauber einer Schneeflocke, der sein Leben verändert.
Wilson Bentley (1865-1931), von dem Robert Schneider im Buch »Der Schneeflockensammler« erzählt, gab es wirklich. Mehr als 5000 Schneekristalle hat er fotografiert und festgestellt, das jedes einmalig ist. Weil er sich für etwas begeistern konnte, das anderen verborgen blieb, hinterließ er eine bleibende Spur. »Er ist anders«, so hatte ihn die Mutter in Schutz genommen. Und wenn er nicht berühmt geworden wäre?
Ja, wahrscheinlich hat das Erwachen der Fantasie auch mit Momenten der Entrückung zu tun, wenn man aus dem Alltag nach »Phantasia« geht. Viele Abenteuer erleben Liane, Zeliş und Asutay auf ihren Wegen durch das »Land der Geschichten«. Einmal treffen sie einen Vogel mit bunten Flügeln und goldenem Schnabel, der sich Umay nennt. »Einen Vogel wie mich gibt es sonst nirgends«, klagt er. »Manche spotten über mich und werfen sogar Steine nach mir.« - »Ich bin auch so wie du«, sagt Liane, die ihres Namens wegen in der Schule oft gehänselt wurde. Doch nach Hause zurückgekehrt, fühlt sie sich nicht mehr so verloren wie früher. Wenn sie jetzt liest oder gar selber in sich Texte formt, weiß sie, dass im »Land der Geschichten« ein Baum ergrünt oder eine Blume aufblüht.
Mir geht Umay nicht aus dem Kopf - irgendetwas verbinde ich damit. Im Buch »Mythopedia« findet sich der Name nicht. Da gebe ich ihn in kyrillischer Schrift ins Internet ein. Wie hatte ich, mit Tschingis Aitmatows Werk und kirgisischen Legenden vertraut, vergessen können, dass die irdische Umaj das weibliche Pendant zum Himmelgott Tengri ist. Sie ist Beschützerin der Mütter und der Kinder, die auch als Erwachsene in ihrer Obhut bleiben, wenn sie die Sprache der Götter nicht vergessen.
Elif Shafak: Liane und das Land der Geschichten. Ein Buch über die Magie des Lesens. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Illustrationen Zafer Okur. Ars Edition, 154 S., geb., 12 €.
Good Wives and Warriors: Mythopedia. Die Welt der Fabelwesen und ihrer magischen Geschichten. Text Anna Claybourne. Aus dem Englischen von Sarah Pasquay. Laurence King Verlag, 128 S., geb., 20 €.
Jules Verne: 20.000 Meilen unter dem Meer. Musik und Nacherzählung von Henrik Albrecht. Illustrationen von Elisa Vavouri. Buch mit CD. Annette Betz Verlag, 30 S., geb., 24,95 €.
Robert Schneider: Der Schneeflockensammler. Mit Bildern von Linda Wolfsgruber. Jungbrunnen Verlag, 32 S., geb., 16 €.
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