Erfolgsgeschichte ohne Zwischentöne

Wuhan hat Covid-19 überwunden. Neben der offiziellen Darstellung zeichnen Chinesen in den sozialen Medien ein etwas anderes Bild

  • Fabian Kretschmer, Wuhan
  • Lesedauer: 8 Min.

Wie jeden Morgen grüßt Dong Haokun beiläufig den alten Pförtner am Eingangstor, ehe er mit schnellen Schritten den mit Werbung zugepflasterten Fahrstuhl betritt. Im 28. Stock angekommen, sperrt der 37-Jährige die Metalltür seines Tanzstudios auf. Gleißende Morgensonne fällt ungebrochen in den lichtdurchfluteten Raum, durch die bodentiefen Fenster reicht der Blick von der geschäftigen Jianghan-Straße bis hin zum Ufer des Jangtse-Fluss. »In Wuhan bin ich geboren, aufgewachsen und hier habe ich auch studiert«, sagt Dong sichtlich stolz, während er mit kerzengrader Haltung auf die Dächer seiner Heimatstadt blickt.

Dass Wuhan vor einem Jahr zum Synonym für eine Pandemie geworden ist, die das gesamte Weltgeschehen von Grund auf verändert hat, scheint in einem Moment wie diesem ein abstrakter Gedanke zu sein. Mehrere Monate liegt die letzte registrierte Infektion in Wuhan zurück. Wer durch die Flaniermeilen, Einkaufszentren oder Nachtmärkte der elf Millionen Einwohner zählenden Metropole geht, wird nur mehr durch die Masken auf den Gesichtern der Menschen an das Coronavirus erinnert. Auch das Leben von Tanzlehrer Dong Haokun wird wieder von ganz gewöhnlichen Alltagspflichten bestimmt: In wenigen Minuten werden die ersten Kundinnen in sein Studio im 28. Stock strömen, um sich in orientalischem Bauchtanz unterrichten zu lassen.

Angesichts des Normalzustands der zentralchinesischen Stadt wirken die Schlagzeilen vom letzten Januar geradezu surreal: Bilder von erschöpften Ärzten gingen um den Globus, offene Leichensäcke in überfüllten Krankenhausgängen und Menschenmengen in Panik vor dem neuartigen Virus. In den folgenden Monaten hat wohl keine Bevölkerung einen drastischeren Lockdown über sich ergehen lassen müssen: Über zehn Wochen lang waren die rund sechs Millionen Einwohner Wuhans, die sich nach dem chinesischen Neujahrsfest in der Stadt aufhielten, in ihren Wohnungen eingesperrt. Weder Busse noch Autos sind mehr auf den Straßen gefahren, sämtliche Autobahnzufahrten wurden abgeriegelt.

Wie also blicken die Wuhaner knapp ein Jahr später auf das kollektive Trauma zurück?

Dong Haokun atmet einmal tief durch, bevor er mit besonnenen Worten antwortet. »Jeden Morgen war damals das Erste, was wir taten, die Anzahl an Neuinfektionen nachschauen, und wie viele Leute gestorben sind«, erinnert er sich. Doch irgendwann sei ihm klargeworden, dass das Leben trotz allem weitergehen müsse. Yoga und Meditationsübungen haben seinen Geist beruhigt, mit einem zweiten Standbein als Online-Devisenhändler konnte er während des Lockdowns sogar ein wenig dazu verdienen.

Doch natürlich habe die dunkle Zeit des Lockdowns auch Narben hinterlassen. Dong Haokuns 90-jährige Großmutter erlitt am 2. März einen Herzinfarkt, seither ist sie regungslos ans Bett gefesselt. »Wie eine Pflanze«, sagt er. »Ich bereue es, sie zuvor nicht noch einmal gesehen zu haben. Ich kann mir nicht mal sicher sein, ob sie mich heute überhaupt noch erkennt.«

Nur einen Steinwurf von Dongs Tanzstudio entfernt zeigt sich Wuhan, eine eher unscheinbare Industriestadt, von seiner alltäglichen Seite: Im alten Kolonialviertel werden die begrünten Gassen von historischen Art-déco-Gebäuden und Streetart-Kunstwerken gesäumt, am Flussufer des Jangtse lassen Senioren ihre bunt bemalten Drachen steigen, und im Geschäftsviertel des Bezirks Hankou ziehen Hunderte Baukräne neue Wolkenkratzer in den blauen Dezemberhimmel. Erst bei näherer Betrachtung kann man die geschlossenen Ladenzeilen erkennen - Geschäfte, die den Lockdown nicht überlebt haben.

»Letztes Jahr hatten wir noch feste Ziele und Träume im Leben, aber jetzt geht es erst mal ums Überleben«, sagt der 20-jährige Wang Jun, ein schlaksiger junger Mann, der sich vor allem für amerikanischen Basketball, deutsche Sportwagen und ausgefallene Sneaker-Schuhe interessiert. Kurz vor dem Lockdown hat Wang sein Diplom als Kfz-Mechatroniker abgeschlossen, im Sommer hätte er nun für seinen zweiten Abschluss an die Fachhochschule Stralsund gehen sollen. Die Pandemie, die mittlerweile in Deutschland grassiert, hat ihm jedoch einen Strich durch seine Rechnung gemacht. Viele von Wang Juns Klassenkameraden aus Wuhan, die ebenfalls nach Europa wollten, mussten ihre Pläne auf Eis legen. »Einige haben sich in der Zwischenzeit von der Armee verpflichten lassen«, sagt Wang.

Er selbst hat mit seiner Freundin im Souterrain eines englischen Jugendstilhauses ein hippes Wohnzimmercafé eröffnet. Die beiden bieten Latte macchiato und Franziskaner-Weißbier an, viele Gäste kommen aber vor allem wegen »Mao Mao«, »Xiaodi« und »Boss« - drei ehemalige Straßenkatzen. Während Wang Jun gerade Nürnberger Bratwürste kocht und von seinem Lieblingsbasketballteam der »Golden State Warriors« spricht, sagt er wie beiläufig einen bemerkenswerten wie archetypischen Satz: »Durch den Lockdown haben wir gesehen, dass das chinesische System sehr gut darin ist, eine Pandemie zu meistern. Viele Ausländer reden zwar von Freiheit, aber das Ergebnis ist, dass man so das Virus eben nicht kontrollieren kann.«

Wang steht bei Weitem nicht alleine mit seiner Meinung da. Während in fast jedem Land der Welt die chinesische Staatsführung im Corona-Jahr an Sympathiepunkten eingebüßt hat, konnte sie innerhalb der eigenen Landesgrenzen ihre Stellung weiter festigen - wegen, nicht trotz der Pandemie.

Natürlich lässt sich ein Jahr nach Ausbruch des Virus zweifelsohne festhalten, dass Chinas Regierung mit ihren drastischen, aber effizienten Maßnahmen das Infektionsrisiko im Land fast ausgelöscht hat. Seit Monaten registrieren die Behörden nur vereinzelte Ansteckungen, die sofort durch gezielte Lockdowns und Massentests lokal eingegrenzt werden können. Darauf ist die Bevölkerung stolz, schließlich hat sie mit Disziplin und Gemeinschaftssinn zum epidemiologischen Erfolg erheblich beigetragen.

Gleichzeitig jedoch zeigen die Lobeshymnen an das eigene System auch, wie perfekt die Propaganda funktioniert. Denn die Regierung hat nicht nur das Virus kontrolliert, sondern auch ein Narrativ für die Geschichtsschreibung geprägt: Wuhans Kampf ist zur heroischen Erfolgsgeschichte ohne jegliche Zwischentöne erklärt worden.

Erzählt wird diese ausschließliche Erfolgsgeschichte eine halbe Autostunde nördlich von Wuhans Stadtzentrum entfernt, in einem überdimensionalen Messezentrum. »Bitte sprechen Sie nicht mit den Leuten, Interviews sind verboten«, sagt die Rezeptionistin, nachdem sie das Journalistenvisum des ausländischen Korrespondenten inspiziert hat. Was in den weitläufigen Ausstellungsräumen folgt, ist eine perfekt choreographierte Inszenierung der Kommunistischen Partei als Retter des Volks. Bereits am Eingang begrüßt ein überdimensionaler Staatschef Xi Jinping auf einem Plakat die Besucher, sein Konterfei wird alle paar Meter zu sehen sein. Zwischen Krankenhausbetten, Rettungswagen und dokumentarischen Fotos lugt immer auch die Fahne der Partei hervor.

Die wenig subtile Botschaft lautet: Die Partei mit Xi an der Spitze hat den »historischen« Kampf gegen die Epidemie »zum frühestmöglichen Zeitpunkt« aufgenommen. »Der strategische Erfolg hat die starke Führung der Kommunistischen Partei Chinas und die bedeutsamen Vorteile des sozialistischen Systems weiter gefestigt«, heißt es an anderer Stelle.

Dass die Regierung jedoch zu Beginn der Pandemie Virusproben vernichten ließ und warnende Ärzte mit einem Maulkorb versehen hat, wird mit keinem Wort erwähnt. Auch die Blogger, die lediglich aufgrund ihrer Berichterstattung in Wuhan seit Monaten in Gefängniszellen ausharren müssen, werden nicht erwähnt.

»Natürlich hat die Regierung nach dem Lockdown das Virus erfolgreich eingedämmt, aber dennoch ist eine solche Ausstellung eine vereinfachende Heldengeschichte«, sagt die Sozialarbeiterin Guo Jing, die im letzten November nach Wuhan gezogen ist. Die 29-Jährige glaubt, »dass die persönlichen Erfahrungsberichte aus der Corona-Zeit, die die Menschen auf sozialen Medien veröffentlicht haben, nicht aus dem Gedächtnis verschwinden werden. Viele dieser Geschichten haben trotz der Kontrolle und Zensur ihren Weg ins Internet gefunden.« Guo Jings »Wuhan-Tagebuch« zählte zu den populärsten Geschichten der Stadtbewohner: In 77 Einträgen mit fast 80 000 Wörtern hat sie die Zeit vom 23. Januar bis zum 8. April dokumentarisch festgehalten. »Ich wusste nicht, was zu tun ist, als ich aufwachte und vom Lockdown erfuhr«, beginnt der erste Eintrag: »Freunde haben mir dazu geraten, meine Vorräte aufzustocken. Reis und Nudeln sind beinahe ausverkauft.«

Nahezu ein Jahr später erzählt die Aktivistin von den gesellschaftlichen Nebenwirkungen jener Zeit: »Der Lockdown hat meiner Meinung nach Frauen viel stärker getroffen - angefangen bei den Haushaltspflichten und der Kinderbetreuung, die meist bei den Frauen hängenblieb«, sagt Guo. Auch wenn es keine belastbaren Zahlen zu dem Thema gebe, habe im Frühjahr auch die häusliche Gewalt deutlich zugenommen. Viele Ehefrauen waren während des Lockdowns ihren gewalttätigen Partnern hilflos ausgeliefert, und viele Nachbarn haben das Problem schlicht als Privatangelegenheit ignoriert. Mit Online-Webinaren hat Guo Jing versucht, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Gemeinsam mit Bekannten habe sie Handbücher in der Nachbarschaft verteilt, um über Notrufhotlines zu informieren.

Die Isolation in den eigenen vier Wänden gehört in Wuhan längst der Vergangenheit an. Die Krankenhäuser arbeiten wieder im Normalbetrieb, wie der Besuch in einem Universitätsspital im Süden der Stadt bestätigt: Ein einzelner Pförtner mit roter Armbinde kontrolliert die Corona-App der Besucher, in der Eingangshalle warten Dutzende Patienten dicht an dicht gedrängt auf ihre Wartenummer.

Eine Ärztin, die anonym bleiben möchte, führt durch die belebten Gänge des Krankenhauses in ihr Büro. Dort stapeln sich die Geschenkpakete, welche sie von dankbaren Patienten nach wie vor erhält. Musste die Endfünfzigerin noch im Frühjahr über Tod und Leben entscheiden, hat sich ihr Arbeitsalltag längst wieder normalisiert. »Doch die Pandemie hat das Denken der Leute stark verändert«, meint die Medizinerin: »Freunde, die ich zuvor nur einmal im Jahr gesehen habe, rufe ich nun regelmäßig an. Auch mit meinen Kollegen treffe ich mich oft und weiß das zu schätzen. Und die Blume am Wegesrand, die ich wohl früher ignoriert habe, schaue ich mittlerweile voller Aufmerksamkeit an.«

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