- Wirtschaft und Umwelt
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Die meisten Einschnitte gibt es unten
Eine neue Studie konstatiert wachsende soziale Ungleichheit während der Coronakrise
Wenn etwas in den letzten Wochen deutlich wurde, dann, dass die Coronakrise die soziale Spaltung im Land verschärft. So gaben laut einer am Montag veröffentlichten Umfrage des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) 90 Prozent der Befragten an, dass sie ein Auseinanderdriften der Gesellschaft befürchten. Im Juni waren es noch 84 Prozent. Die gesteigerten Ängste um den sozialen Zusammenhalt hängen wohl auch damit zusammen, dass weitaus mehr Menschen die Krise jetzt im eigenen Geldbeutel spüren als noch im Sommer.
Für seine Studie befragte das zur gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gehörende WSI im April, Juni und im November 6100 Erwerbstätige und Arbeitsuchende zu ihrer Einstellung zur und Belastungen durch die Pandemie. Demnach berichteten zuletzt 40 Prozent, dass sie aktuell oder schon zu einem früheren Zeitpunkt von Einkommensverlusten wegen der pandemiebedingten Krise betroffen sind beziehungsweise waren. Im Juni gaben dies 32 Prozent an. Ein wesentlicher Grund für Einkommensverluste ist dabei laut der Studie neben Umsatzverlusten für Selbstständige die Betroffenheit von Kurzarbeit. So gaben sieben Prozent der Befragten an, von ihrem Arbeitgeber in Kurzarbeit geschickt worden zu sein, fast jeder Zweite von ihnen war beziehungsweise ist länger als ein halbes Jahr davon betroffen. Rechnet man dieses Umfrageergebnis auf die Gesamtzahl der Erwerbstätigen hoch, so entspricht dies 2,3 bis 2,4 Millionen Personen.
»Menschen, die schon vorher ein niedrigeres Einkommen und eine weniger sichere Position auf dem Arbeitsmarkt hatten, sind besonders oft von Einbußen betroffen«, sagt WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch. So berichteten zuletzt 53 Prozent der Befragten mit einem Nettoeinkommen von unter 1500 Euro im Monat, dass sie in der Krise mit weniger Geld auskommen müssen. Bei den Befragten, die mehr als 2000 Euro netto zur Verfügung haben, sind mit rund einem Drittel deutlich weniger von Einbußen betroffen. Im Juni lagen die Werte für die Niedrigverdienenden noch bei 43 und für die Besserverdienenden bei 26 Prozent.
Die Befragungen im April und Juni, deren Ergebnisse im diesjährigen WSI-Verteilungsbericht vorgestellt wurden, ergaben zudem, dass untere Einkommen in einem weitaus stärkeren Maß von Einbußen betroffen sind als hohe Einkommen. Laut dem Mitte November veröffentlichten Verteilungsbericht hatten 30 Prozent der betroffenen Haushalte, die mehr als 2600 Euro pro Monat zur Verfügung haben, Einbußen von mehr als einem Viertel. Von den Befragten, die weniger zur Verfügung hatten und von der Krise betroffen waren, berichtete hingegen knapp die Hälfte von Einkommensverlusten von über einem Viertel. Noch größere Verluste kamen vor allem bei Niedrigeinkommen unter 900 Euro vor: Dort erlitten knapp 20 Prozent sogar Einbußen von mehr als der Hälfte ihres Einkommens.
Dabei konstatierte der WSI-Verteilungsbericht, dass die niedrigen Einkommen schon vom Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre nicht profitiert haben. Zwar ist die Einkommensungleichheit demnach seit 2013 leicht zurückgegangen, nachdem sie in den Jahren zuvor angestiegen ist. Doch liegt dies laut dem WSI an der Entwicklung der mittleren und nicht der niedrigen Einkommen. Das Institut spricht sich deshalb für die schrittweise Anhebung des Mindestlohns auf 60 Prozent des mittleren Einkommens von Vollzeitbeschäftigten aus. Dies wäre per Definition ein armutsfester Mindestlohn und entspräche mindestens 12 Euro. Derzeit beträgt er 9,35 Euro brutto die Stunde. Ab Januar sind es 9,50 Euro, und bis Juli 2022 soll der Mindestlohn auf 10,45 Euro steigen.
12 Euro peilt auch die SPD seit Längerem an. Nun versprach Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) gegenüber der »Bild am Sonntag«, im Januar diesbezüglich ein Vorschlag zur anstehenden Reform des Mindestlohngesetzes vorzulegen. »Macht der Koalitionspartner bei der Umsetzung mit, wird die Mindestlohnkommission ab 2022 nach den geänderten Kriterien verhandeln«, so Heil. Er wolle, dass 60 Prozent des mittleren Lohns als Ziel im Mindestlohngesetz verankert werden. Das entspräche derzeit 12 Euro, erklärte der SPD-Politiker.
Den Gewerkschaften geht Heils Plan nicht schnell genug. Die Einschätzung des Bundesarbeitsministers, dass der gesetzliche Mindestlohn deutlich steigen müsse, um ein Leben in Würde zu ermöglichen, sei zwar richtig, sagte Verdi-Chef Frank Werneke gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. »Allerdings ist jetzt politischer Mut gefragt«, so Werneke. »Anstatt sich mit Trippelschritten auf 12 Euro Stundenlohn zuzubewegen, muss der Mindestlohn einmalig vom Gesetzgeber um 2 Euro angehoben werden, damit Tariflöhne und Mindestlohn nicht weiter auseinanderlaufen.«
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