- Kultur
- Armin Mueller-Stahl
Das Glück dessen, der warten kann
Zum 90. Geburtstag des Schauspielers Armin Mueller-Stahl
Wenn er sprach, war jeder Vers glänzend rhythmisiert im Ein- und Ausatmen. Zwischen den Atemzügen das Gedachte - bezwingend verdichtet. Nein, nicht von Armin Mueller-Stahl ist hier zunächst die Rede, sondern von jenem impulsgebenden Vorbild, an dem die Sehnsüchte sich formten. Dieses Vorbild, das war für den sehr jungen Mueller-Stahl, unmittelbar nach dem Krieg, das Deutsche Theater Berlin und auf dessen Bühne der strahlende Horst Caspar. Der deklamierte die Konflikte wie kein anderer, er artikulierte Erregungen und Abgründe, bildete Wahn und Witz, Liebe und Tod fast allein mit den Lippen. Caspar, das Genie. Und sein legendärer Hamlet. Das will ich auch sein, dachte sich der angehende Violinist Mueller-Stahl, am besten ein geigender Hamlet. So ging er zur Schauspielschule, wurde aber »wegen mangelnder Begabung« früh entlassen. Er gab nicht auf und bat die Intendantin des Berliner Ensembles, Helene Weigel, um Hilfe. Sie vermittelte ihn ans Theater am Schiffbauerdamm.
Was immer man von Mueller-Stahl sah: Er ruhte in sich, war Schmelz und Sinn. »Nackt unter Wölfen« (1962) und »Die Flucht« (1977) sind nur zwei von so vielen Defa-Filmen als Beleg für das, was später die Weltkarriere in den USA ermöglichte. Dieses Großzügige beim Verzögern, dieser Wärmestrom noch in den Einsamkeiten. Weniger das Lodernde, gezügelt, sondern eher das Gezügeltsein, flammend. Sanftheit war wohl ein Erbgut. In Leipzig arbeitete seine Mutter als Dozentin für Slawistik an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät - sie korrigierte die Studentenarbeiten mit Rasierklinge, denn so tilgte sie die Fehler auf dem Papier, um keinem Studenten wehzutun.
Leben, das sind vorwiegend die Regentschaften des Zufalls. Mitunter sind sie mehr: Fügung. Als der 15-jährige Armin von einem russischen Soldaten an eine Scheunenwand gestellt wurde, wohl, um erschossen zu werden (»Der Tod war damals keine Bestie, auch wenn man ihm selber gegenüberstand«), da platzte ein polnischer Kriegsgefangener in die Szene und beschwor die Russen, nicht zu schießen. Sie schossen tatsächlich nicht. Es war der 1. Mai 1945, just jener Tag, da sich Mueller-Stahl mit seinem Vater treffen wollte. Der kam nicht. Weil er, so des Sohnes Vermutung, als Deserteur erschossen wurde. Er war in Schwerin im Lazarett - aber ohne Krankenakte. Dann floh er. »Starb er für mich?«, fragte sich Mueller-Stahl sehr oft. Und ist dies das Schicksal? Bittere Weltbalance? Dass einer gerettet wird und dafür, vielleicht im gleichen Moment, woanders einer sterben muss? Immer das eine Leben für das andere? Jedes irdische Glück in zwillingshafter Partnerschaft mit einer Katastrophe? Der Vater, Bankbeamter, wollte eigentlich Künstler werden. Der Sohn wurde es. Er wurde Spieler, Autor, Maler (»Das Malen fällt mir am leichtesten«). Die Weitergabe von Talent ist das Rätselspiel des Lebens.
Als Mueller-Stahl 1961 bei der Defa »Königskinder« drehte, rammte sich die Mauer ins Jahrhundert; er war zufällig im Westen, kehrte aber trotz gewachsenen Gefühls der Enge zurück nach Ostberlin. Preußisches Pflichtgefühl blieb stärker als die Verführung durch ein Theaterangebot aus Stuttgart und ein Filmplan mit Wolfgang Staudte: Man lässt eine laufende Arbeit nicht im Stich. Obwohl Ulrich Thein ihm einen Brief geschrieben hatte: Er würde verstehen, wenn er drüben bliebe, denn »es ist kalt hier«. Und es wurde immer kälter. 1975 kündigte Mueller-Stahl die Arbeit an der TV-Serie »Das unsichtbare Visier«, einer Stasi-Spion-Erfolgsstory. Immer platter wurden die Drehbücher. Es beginnt eine Isolation, die nach der öffentlich bekundeten Solidarität mit Wolf Biermann 1976 zum endgültigen Bruch mit dem Staat führt.
Es waren immerhin 25 Jahre Arbeit an der Volksbühne. Mit den Gedanken war Mueller-Stahl irgendwann nur noch außerhalb des miefigen Landes, in dem ihm die Verbotsschilder in den Kopf zu wachsen drohten. Am letzten Vorstellungsabend die feuchten Augen seines Garderobiers, doch von den Kollegen kein Wort, kein Quäntchen Trauer. Aber wahrscheinlich sind die Abschiede, die uns leicht gemacht werden, die hilfreichsten. Vorher noch, wie ein letzter bitterer Tropfen ins übervolle Fass, kam der Dreh von »Geschlossene Gesellschaft« mit Frank Beyer und Klaus Poche. Ein Trauerspiel aus einem Käfig, der sich Sozialismus nannte und der doch von Samuel Becketts, August Strindbergs und Ingmar Bergmans Existenzdunkel längst überlagert, ach, von diesem Dunkel nie verlassen worden war.
»Geschlossene Gesellschaft« war ein Fernsehfilm über den verpfuschten Urlaub eines Paares, Bestandsaufnahme eines verfehlten Lebens - zudem eine mutige Hereinnahme von Entfremdung und Verlorenheit ins künstlerische Bild von »sozialistischer« Gegenwart. Alle Schauspielkunst (neben Mueller-Stahl die große zarte Jutta Hoffmann) auf Ahnungen gerichtet, die Gewissheiten geworden waren: dieses Nicht-Geheure in den alltäglichen Abläufen einer starren Gesellschaft. Die Aufführung im DDR-Fernsehen 1978 steigerte sich zur Farce, zum plump-grausigen Beleg dieser Starre, die sich verkumpelte mit frecher Verdummung: Der Sendetermin wurde unter Vorwänden tagesaktueller Programmänderungen immer weiter in den Spätabend geschoben, in dreister Hoffnung, vor Beginn des Films gehe die DDR schlafen. Wegschlafen würde in absehbarer Zeit das gesamte System - ins Koma.
In der Bundesrepublik kam dann die Begegnung des Schauspielers mit Rainer Werner Fassbinder. Auf den Mueller-Stahl wie ein Vater wirkte, »zum Glück«, wie er immer sagte, denn das Väterliche rettete vor der Aggressivität des Regisseurs, der sich mit dem Vorsatz zu Tode wühlte, Leben sei Fülle, nicht Länge. »Er akzeptierte Söhne und Väter, nur Brüder akzeptierte er nicht.« Im Westen hatte Mueller-Stahl, trotz Geldnot, zunächst Nein gesagt, unter anderem zum Krimi-Angebot des ZDF, den »Alten« zu übernehmen. Er nannte das »die einzige mutige Tat« seiner Existenz. Wochen nach der Absage rief der weltberühmte Regisseur Costa-Gavras an - es folgte der Durchbruch in Hollywood, mit »Music Box« (1989). Freilich: Ehe er spielen durfte, fanden Absicherungsgespräche an höchster politischer Stelle statt. Denn würde einer, der wegen unbequemer Haltung sein Land verlassen hatte, nicht auch in den USA ein unsicherer Kantonist sein?
Das Charisma dieses Künstlers erzählt vom Glück dessen, der warten kann. Und der vertraut. Nämlich darauf, bei Zweifelsleere von ungeahnten Kräften versorgt zu werden. Das ist eine Haltung, die der Schauspieler über Jahrzehnte nicht aufgibt. Sein Spiel habe ich nie galoppieren, nie preschen sehen. Es irrte nie umher. Noch dem Abgründigsten gab er ein bezwingendes Täter- wie Opfergeheimnis. Und im Abgründigen war Mueller-Stahl immer am besten. In Filmen wie István Szabós »Oberst Redl« (1985), Agnieszka Hollands »Bittere Ernte« (1985) oder Scott Hicks’ »Shine« (1996). Männer auf Wegen hinein in dunkle Abendländereien, wo Lebensdrohung und Todeshoffnung ihre Schatten gleichsam über Kreuz werfen. Oder jene lächerliche Fratze des 103 Jahre alten Hitler, die er im einzigen Film unter eigener Regie verkörperte, »Gespräch mit dem Biest« (1996). Und besonders hervorstechend in Jim Jarmuschs »Night on Earth« (1991) als der New Yorker Taxifahrer Helmut mit teutonischem Migrationsvordergrund - ein Flöte spielender Ex-Clown aus der DDR.
Mueller-Stahl wirkte nie wie ein Schauspieler, der auf Stoffe zugriff; er war einer, der sich bereitwillig in Stoffen verlor, sie als fremde, sperrige, unerforschbare Welten begriff. Instinkt würde ihn führen. Und stets war da dieses Besondere: als müsse er eine Art Entsetzen überwinden - die Schrecksekunde des Schöpfers vor der Schöpfung. Dass Ticken dieser Schöpferschrecksekunde durchzitterte jede seiner Gestalten. Selbst den sonoren, planetenfern distanznoblen Thomas Mann im Breloer-Film über die Familie des Jahrhundertdichters.
Ein sensibles, beinahe weiches Schauspielerwerk. Kein bisschen Überschaum, sondern intensive Entspanntheit. Sie kam aus der Erfahrung, im entscheidenden Moment Empfindungsgenauigkeit aufzubringen - in dem, was man einzig nur sich selber schuldig ist. An diesem Mittwoch wird der Schauspieler, Maler und Musiker Armin Mueller-Stahl, 1930 in Tilsit geboren, 90 Jahre alt.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.