- Politik
- Tunesien und der Arabische Frühling
Wieder bei null
Hoffnungen nach den Protesten vor zehn Jahren in Tunesien wurden enttäuscht
Es ist nur ein kurzer Moment, in dem Mohamed Talil auf die Frage, wie es ihm geht, schweigt. Der Inhaber eines kleinen Elektroladens sammelt sich und holt tief Luft. Dann hebt er an zu einem Monolog gegen die Politiker, die gerade im acht Kilometer entfernten Parlament tagen und sich live auf einem der Fernsehbildschirme im Schaufenster mit Beschimpfungen belegen. «Hier hat sich nichts zum Besseren geändert in den letzten Jahren», sagt der 38-Jährige. «Von Revolution ist hier seit zehn Jahren nichts zu sehen. Im Gegenteil, der Staat ist weitgehend aus Ettadhamen verschwunden und lässt uns mit den steigenden Preisen, der Arbeitslosigkeit unserer Jugend und jetzt auch noch der Coronakrise alleine.»
Die Menschenmenge, die sich vor seinem kleinen Laden mit verstaubten Handys, Kameras und Waschmaschinen versammelt, wird schnell größer. Kopfnicken, eine ältere Dame zeigt einen 20-Dinar-Schein, umgerechnet 6 Euro, von dem sie eine Woche leben müsse. Ausländische Reporter kommen selten nach Ettadhamen, ins Armenviertel von Tunis. Auch Geschäftsleute wie Mohamed Talil leben seit der coronabedingten Wirtschaftskrise von der Hand in den Mund, kaum mehr als als 200 Euro im Monat blieben ihm als Gewinn am Monatsende, sagt er.
- 17. Dezember 2010, Tunesien: Der Straßenhändler Mohamed Bouazizi übergießt sich nach Streit mit den Behörden mit Benzin und zündet sich an. Es kommt zu landesweiten Protesten.
- 14. Januar 2011, Tunesien: Präsident Zine Al-Abidine Ben Ali flieht nach wochenlangen Unruhen außer Landes. Er hatte 23 Jahre mit eiserner Hand geherrscht.
- 25. Januar 2011, Ägypten: Es beginnen Massendemonstrationen gegen das Regime von Staatschef Hosni Mubarak.
- 27. Januar 2011, Jemen: Massenprotest in der Hauptstadt Sanaa gegen Machthaber Ali Abdullah Salih.
- 11. Februar 2011, Ägypten: Mubaraks Rücktritt wird verkündet – nach fast 30 Jahren.
- 14. Februar 2011, Bahrain: Großdemonstrationen der überwiegend schiitischen Opposition gegen das sunnitische Königshaus Al Chalifa. Es kommt bald zu Aufständen, die mit Hilfe von Truppen Saudi-Arabiens und anderer Golfstaaten niedergeschlagen werden.
- 17. Februar 2011, Libyen: Der Aufstand gegen Machthaber Muammar al-Gaddafi beginnt und weitet sich zum Bürgerkrieg aus.
- 18. März 2011, Syrien: Nachdem Teenager wegen regimekritischer Sprühereien festgenommen wurden, kommt es zu Protesten. Machthaber Baschar Al-Assad reagiert mit massiver Gewalt. Aus dem Aufstand wird ein Bürgerkrieg. Assad ist bis heute im Amt.
- 20. Oktober 2011, Libyen: Gaddafi wird getötet. Er herrschte rund 42 Jahre.
- 23. November 2011, Jemen: Salih unterzeichnet eine Erklärung zur Machtübergabe. Er regierte 33 Jahre. Bis heute ist Krieg im Jemen, die humanitäre Lage ist katastrophal.
Mit Wut und Verzweiflung ringt auch Ali. Der 28-Jährige sitzt in einem Café um die Ecke und spricht mit seinen Freunden über die offenen Arbeitsangebote in dieser Woche. «Wir arbeiten hier fast alle informell, ohne Arbeitsvertrag. Seit dem Lockdown im Frühjahr haben die Händler die meisten Angestellten entlassen und warten auf bessere Zeiten.» Doch am meisten mache ihm zu schaffen, dass man im Stadtzentrum immer noch Probleme mit der Polizei bekomme, wenn man aus Ettadhamen stammt. Der Geburts- und Wohnort ist in tunesischen Ausweisen vermerkt. Mehr als 6000 Tunesier sind aus Vororten wie Ettadhamen in den letzten Jahren nach Libyen oder Syrien gegangen, auch Anschläge gegen die tunesischen Sicherheitskräfte wurden meist hier geplant.
«Viele meiner ehemaligen Mitschüler sind mittlerweile in Tripolis oder Rakka, nicht weil sie radikal sind, sondern weil sie so ihren Familien Geld schicken können», sagt Ali. Zu dem Thema Radikalisierung will er sich lieber nicht näher äußern, wie fast alle anderen, die wir dazu befragen. Dafür berichtet er im Detail über die Ohrfeigen, die ihm zwei Polizisten im Frühjahr verpassten, als er kurz vor Beginn der abendlichen Sperrstunde auf der Avenue Habib Bourguiba im Zentrum von Tunis angehalten wurde. «Wir sind Menschen zweiter Klasse, die Politiker sollten sich nicht wundern, wenn es bald wieder einen Aufstand gibt», sagt Ali resigniert.
Auch im von Stacheldraht geschützten Parlament im Stadtteil Bardo ist die Lage angespannt. Samia Abou, Vorsitzende der Afek-Tunis-Partei, hat an diesem Montag Abgeordnete der linken und liberalen Szene versammelt. Die energische Frau will eine Petition gegen die Islamisten der Karama-Bewegung durchpeitschen. Deren Chef, der Rechtsanwalt Seifeddine Makhlouf, geht ungerührt an der Gruppe von 30 Frauen und Männern vorbei. Ein Fotograf hält die Kamera bereit, falls es wieder zu Handgreiflichkeiten kommt, so wie letzte Woche. Nach heftigem Wortgefecht zwischen Makhlouf und Abou über den Status von alleinerziehenden Müttern, soll der 40-jährige Makhlouf gewalttätig geworden sein. Eine Abgeordnete der liberalen Afek-Fraktion wurde mit blutiger Nase im Krankenhaus behandelt. «Karama ist eine terroristische Bewegung, die unsere Jugend nach Syrien schickt und Frauen zurück an den Herd beordern will», sagt Samia Abou, bevor die Gruppe ein Schmählied gegen Makhlouf anstimmt.
«Die wahren Terroristen sind diejenigen, die tunesische Werte verletzen, die das Erbschaftsrecht ändern wollen und junge Leute aus armen Gegenden von der Polizei verfolgen lassen», sagt Seifeddine Makhlouf dem «nd» in seinem Büro, eine Etage über der Versammlung seiner Gegner. Seit dem letzten Jahr ist die kleine Karama-Partei im tunesischen Parlament vertreten und fordert die Reform der noch aus Ben Alis Zeiten stammenden Polizeigesetze und ein Ende des seit fünf Jahren geltenden Notstands. «Über 100 000 Tunesier wurden von der Polizei willkürlich mit S 17-Maßnahmen versehen, sie gelten damit als nationale Gefahr und finden weder Job noch Wohnung. Das wirkliche Problem sei der Staatsterrorismus, so der Rechtsanwalt, zu dessen Mandanten auch der sogenannte Leibwächter von Osama Bin Laden gehörte.
Die Fahrt mit dem Sammeltaxi Louage in die 40 000-Einwohner-Stadt Sidi Bouzid zeigt, dass die Zeit im Südwesten Tunesiens stillzustehen scheint. An den Fenstern des Kleinbusses ziehen Weizenfelder, riesige Kakteen und sanfte Gebirgszüge vorbei. Wegen der Corona-Reisebeschränkungen kommen uns nur wenige Autos entgegen. »Wir waren auch schon vor der Corona-Zeit wie von der Außenwelt abgeschnitten«, sagt Kais Bouazizi, als er die Louage-Station in Sidi Bouzid zu Fuß verlässt. Im seinem Café »Amazon« wartet schon eine Art Empfangskomitee: 20 Freunde, die über Facebook den Ausgang eines Verhörs von Kais Bouazizi in Tunis verfolgt haben. Der Geschäftsmann war wegen Aufwiegelung zum Terrorismus auf eine Wache zitiert worden. Angezeigt hatte ihn die Oppositionsführerin Abir Moussi.
Eigentlich kommen die applaudierenden Gäste jeden Tag in die beiden unscheinbaren Räumen im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses. Man ist unter sich. Viele lassen bei Kais Bouazizi anschreiben, weil sie sich nicht einmal einen Kaffee am Tag leisten können. Der Lockdown in weiten Teilen Tunesiens hat Gelegenheitsschmugglern, Tagelöhnern und Markthändlern das Einkommen gekostet. Doch heute gab es die Chance, sich für Kais Bouazizis Großzügigkeit zu revanchieren. Während des Freispruchs in Tunis hat eine Menschenmenge in Sidi Bouzid das Parteibüro der Destour-Partei gestürmt und Abir Moussis Anhänger »eindringlich aufgefordert, das Weite zu suchen und nicht nach Sidi Bouzid zurückzukommen«, wie Aiman Garbi es umschreibt. Zu Gewalt sei es nicht gekommen, behauptet der 35-Jährige und zeigt wie zum Beweis auf die Polizisten auf der Einfallsstraße nach Tunis, die keine 100 Meter entfernt vom Café »Amazon« in aller Ruhe den Verkehr kontrollieren.
Der Konflikt zwischen der armen Provinzjugend und der Elite in Tunis scheint sich zehn Jahre nach der Revolution ausgerechnet dort zu wiederholen, wo alles begann.
»I love Sidi Bouzid« steht in 1,50 Meter großen Buchstaben dort, wo der Gemüsehändler Bouazizi sich am 17. Dezember 2010 angezündet hat. Vor dem hohen Metallzaun dahinter hatte der 25-Jährige um Einlass auf das Gelände des regionalen Gouverneurs gebeten. Er wollte sich beschweren, dass eine Polizeibeamtin am Morgen einen Teil seiner Waren beschlagnahmt hatte, die er täglich auf dem Markt verkaufte. Wie viele seiner Kollegen arbeitete Mohamed Bouazizi ohne Lizenz und war damit auf den guten Willen der Uniformierten angewiesen, die zu Ben Alis Zeiten allmächtig die Ein- und Ausgänge des Marktes in Sidi Bouzid kontrollierten. Gegen ein kleines Handgeld ließen sie auch die vielen ambulanten Träger und Händler wie Bouazizi auf das Marktgelände. Am Morgen des 17. Dezember konfiszierte eine Beamtin einen Teil der Waren und beleidigte ihn vor den anderen Händlern, sagen Zeugen des Vorfalls bei einem Treffen im Café Amazon. Es werden Textnachrichten von dem Tag herumgereicht. Niemand kann sich daran erinnern, dass die Beamten an jenem Tag besonders streng gewesen waren. Aber für den jungen Gemüsehändler reichte es. Mohamed hatte genug davon, im Leben herumgestoßen zu werden, sagt Kais. »Er ging direkt vom Markt zur Tankstelle und kaufte einen Kanister Benzin.«
Der Markt der Stadt hat sich nicht geändert, immer noch kassieren die Beamten ihren Anteil, immer noch arbeiten viele hier, weil sie einfach keinen besseren Job gefunden haben. Die coronabedingte frühe Schließung des Marktes und der neu eröffnete Supermarkt der französischen »Carrefour«-Gruppe hätten ihre Einkommen noch einmal halbiert, sagen die Händler.
Nach Angaben der Weltbank geht auch heute über die Hälfte der Arbeitnehmer im Süden Tunesiens ohne Arbeitsvertrag zur Arbeit - in Restaurants, in Hotels, auf Märkten, an Straßenständen oder auf dem Markt. »Den Staat kennen wir eigentlich nur in Form von korrupten Beamten, die daraus ihren Eigennutz ziehen«, sagt Kais Bouazizi und zeigt auf eine übergroße Schubkarre, die an den »Märtyrer« Mohamed Bouazizi, seinen Cousin, erinnert.
Zwischen dem Mahnmal und der »I love Zidi Bouizid«-Aufforderung prangt an der Fassade der Post ein zehn Meter hohes Portrait. Kais Bouazizi zeigt auf die Buchstaben aus Metall auf dem Gehweg. »Genau hier hat sich Mohamed vor zehn Jahren verbrannt. Aber anstatt die Lage der Jugendlichen zu verbessern, hat der Staat nur diese Floskel für sie übrig.«
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