Revolution ohne Revolutionäre

Der »Arabische Frühling« jährt sich zum zehnten Mal. Doch was ist geblieben?

  • Philip Malzahn
  • Lesedauer: 4 Min.

Es war eine Protestwelle von ungeahntem Ausmaß. Nach dem Selbstmord des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi in Tunesien am 17. Dezember 2010 gingen in der gesamten arabischsprachigen Welt Millionen Menschen gegen ihre Regierungen auf die Straße. Bis auf eine lose Verbundenheit durch Sprache und Religion unterscheiden sich Länder wie etwa Marokko, Syrien oder der Oman in vieler Hinsicht, doch in ihren Forderungen waren sich die Menschen einig. Das einfache wie ambitionierte Ziel: Ein politischer Neuanfang und ein Leben in Würde, ohne jene Regierungen, die seit Jahrzehnten in die eigene Tasche wirtschaften und jegliche Kritik brutal unterdrücken.

Im ersten Jahr nach Beginn der Proteste hatte sich so viel verändert wie seit Jahrzehnten nicht. In Jordanien, Kuwait und Marokko wurde die Regierung umgebildet, wobei die Monarchen der jeweiligen Länder ihre Position verteidigen konnten. Im Jemen trat der Präsident Ali Abdullah Saleh unter dem Druck der Protestierenden zurück; in Tunesien floh Diktator Zine Al-Abidine Ben Ali nach Saudi-Arabien. In Algerien und Sudan wurden Grundsteine für jene Proteste gelegt, die im Jahr 2019 dann zum Rücktritt der Präsidenten Abdelaziz Bouteflika und Omar Al-Bashir führten. Im Oman konnte der im Januar 2020 verstorbene Sultan Qabus ibn Said sogar durch tief greifende Reformen die Protestierenden so weit beschwichtigen, dass seine weitere Herrschaft im Gegenzug für etwa die Einführung eines Arbeitslosengeldes weitestgehend akzeptiert wurde.

Doch auf die anfänglichen Erfolge folgte die bittere Enttäuschung. In Bahrain wurden die Aufstände brutal niedergeschlagen - mit Erfolg. In Libyen als auch in Syrien herrscht immer noch Krieg. Während in Libyen nach dem Sturz des Präsidenten Muammar Al-Ghaddafis diverse Parteien um die Vormachtstellung im Land kämpfen, konnte Präsident Baschar al-Assad in Syrien mit russischer und iranischer Hilfe weite Teile des Landes nach anfänglichen Verlusten zurückgewinnen.

Doch auch in Ländern, in denen es nicht zu einem Bürgerkrieg gekommen ist, ist vom Frühling kaum noch etwas zu spüren. Auf die Frage, warum eine so massive und parallel stattfindende Protestwelle in über 19 Ländern vielerorts nur noch mehr Repression und Gewalt zur Folge hatte, gibt es verschiedene Antworten. Eine davon ist folgende: Der iranische Soziologe und Politikwissenschaftler Asef Bayat beschreibt die Ereignisse um den Arabischen Frühling in seinem gleichnamigen Buch als »Revolution ohne Revolutionäre«. Laut Bayat lag die Durchschlagskraft, aber eben auch die zentrale Schwäche des »Arabischen Frühlings« in der Zusammensetzung der Proteste. Denn dort hatten keine Parteien oder Politiker die Zügel in der Hand, sondern die Menschen. Davon waren die meisten zuvor in keinerlei Form politisch organisiert. Ebenso banal waren auch die Forderungen der Bewegung: ein besseres Leben, für alle. Ab dem Zeitpunkt jedoch, wo die Massen auf den Straßen den Sturz oder zumindest die Umbildung ihrer Regierung erlangt hatten, verloren sie an Kraft. Denn die Debatte um die Zukunft des jeweiligen Landes verlagerte sich von der Straße, wo sie von allen Protestierenden mitgehört und mitbestimmt werden konnten, wieder in die Parlamente und Parteizentralen. Genau dann schalteten sich vielerorts politische Kräfte ein, die jahrelang im Schatten der Regierungen auf ihre große Chance gewartet hatten. So etwa die Muslimbrüder in Ägypten, die die erste jemals freie Wahl des Landes 2012 für sich entscheiden konnten. Nachdem die Muslimbrüder sich etwa durch Verfassungsänderungen mehr Macht zusprechen wollten, als der zuvor gestürzte Diktator Hosni Mubarak jemals besessen hatte, wurde ihr Sturz durch den damaligen General und jetzigen Präsidenten Abdel Fattah Al-Sisi im Juni 2013 von Millionen bejubelt. Dieser wiederum hält bis heute am System Mubarak fest: Ein starker Sicherheitsapparat und ein noch stärkeres Militär, unter dem die meisten Menschen zwar in Armut, aber dafür in Sicherheit leben können, solange sie keine Kritik äußern.

Genau mit dem Argument, eine harte Regierung und ein mächtiger Sicherheitsapparat seien nötig, um das Land vor dem Chaos zu bewahren, hatten zuvor Männer wie Mubarak in Ägypten, Ghaddafi in Libyen, Ben Ali in Tunesien und Assad in Syrien jahrzehntelang regiert. Doch wenn man aus dem »Arabischen Frühling« etwas lernen kann, dann, dass die Menschen der arabischsprachigen Welt sich nicht ewig damit zufriedengeben werden.

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