Neue Männel braucht das Land

Das sächsische Erzgebirge mit seiner Volkskunst gilt als Gralshüter der deutschen Weihnachtstradition. Zumindest via Internet kann man seine Märkte und Manufakturen noch besuchen.

  • Carsten Heinke
  • Lesedauer: 5 Min.

Fast auf dem Kamm des Erzgebirges, umringt von Wald und Bergen, liegt Seiffen. An Winterabenden in der Adventszeit ähnelt der verträumte Kurort tatsächlich einem Spielzeugdorf. Auf seinen Dächern häuft sich Schnee wie Zuckerwatte. Wo ihn der warme gelbe Lichtschein aus den vielen kleinen Fenstern trifft, glänzt und glitzert er, wie über ihm die Sterne. Am hellsten strahlt die Kirche. Trotz bescheidener Statur überragt sie alle Häuschen ringsherum.

Mit seinem achteckigen Grundriss und einem ebensolchen Dach, aus dessen spitzer Mitte sich der Turm erhebt, sieht das zierliche barocke Bauwerk (inspiriert von Dresdens Frauenkirche) schon fast selbst wie eine Spieldose aus. Etliche Spieldosen schmücken die »Lichterkirche« wirklich - in Miniform aus Holz. Auf Schwibbögen und Weihnachtspyramiden gehört sie zu den beliebtesten Motiven des erzgebirgischen Holzkunsthandwerks. Seiffen gilt als dessen Wiege.

Normalerweise wäre dort jetzt Weihnachtsmarkt - begleitet von Musik und Bergparaden, Laternenzügen und Besuchen in den Schauwerkstätten, wo man den Spielzeugmachern auf die geschickten Finger schauen kann. Wegen der Pandemie darf all das in diesem Jahr nicht sein. Immerhin gibt es als kleinen Trost die Möglichkeit, via Internet durch die Heimat der erzgebirgischen Männel zu reisen - zum Beispiel auf den virtuellen Markt der Weihnachtsmacher von Dregeno. Dieser Drechslergenossenschaft gehören fast 130 Handwerksunternehmen aus dem »Seiffener Spielzeugwinkel« an.

Akustisch untermalt, schweift der Bildschirmblick über den verschneiten Weihnachtsmarkt von Seiffen bis hin zur Kirche, in der man per Mausklick eine Adventsandacht besuchen kann, oder zur Bühne mit Musikprogramm nach eigener Wahl. Vor dem dunklen Abendhimmel leuchten Lichterketten, der geschmückte Weihnachtsbaum und Herrnhuter Sterne.

Man kann sich einfach treiben lassen oder scrollt sich mittels Maus von einer Hütte zur nächsten, zoomt sich hinein und findet darin außer regionalen Leckerbissen oder guten Tröpfchen vor allem jede Menge Kunsthandwerk. Per Klick erfährt man Wissenswertes oder gelangt direkt zum Hersteller sowie in dessen Onlineshop.

So etwa beim »Männelgeflüster«. Diese kurzen Videos zeigen, wie die Volkskunstklassiker entstehen und erzählen deren Geschichten und die mit ihnen verbundenen Bräuche. So lernt der Zuschauer, dass Schwibbögen die früher durch Grubenlampen beleuchteten halbrunden Stollenöffnungen symbolisieren. Oder auch, dass durch die Herstellung von Miniaturen Zoll gespart wurde, weil man den nach dem Gewicht der Ware berechnete. Auch ist zu erfahren, dass die Grubenarbeiter ihren Kindern Kerzenhalterfiguren schenkten. Jeder Junge bekam einen Bergmann, jedes Mädchen einen Engel. Zur Begrüßung ihrer Väter stellten sie die bunt bemalten Holzpuppen ins Fenster und zündeten die Kerzen an.

Wie vielerorts im Erzgebirge lebte man auch im Seiffener Raum lange Zeit vom Bergbau. Mit dessen allmählichem Niedergang wandten sich zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert mehr und mehr Menschen textilen und holzverarbeitenden Gewerken zu. Besonders im Osterzgebirge, zu dem auch Seiffen zählt, widmete man sich der Herstellung von Holzspielzeug. Um die immer aufwendiger gefertigten Stücke lange zu erhalten, wurden sie zunehmend weniger oder gar nicht mehr zum Spielen genutzt und waren bald nur noch »zum Anschauen« da.

Neben Engeln, Krippenszenen oder Kirchensängern dominierten Charaktere und Symbole aus der Bergbautradition. Bei Kerzenhaltern, Räuchermännern oder Nussknackern sind bergmännische Paradeuniformen bis heute angesagt. Mit ihrem riesigen Klappmund und den großen aufgemalten Zähnen galten Nussknacker ursprünglich als Spottfiguren und wurden deshalb meist als Könige, Gendarmen oder Soldaten dargestellt.

Räucherfiguren (in ihrer Muttersprache »Raachermannel« genannt, die auf Erzgebirgisch auch nicht rauchen, sondern »nabeln«) - oft Förster oder waldgeistähnliche Gesellen - konnten schon in der Vergangenheit durchaus weiblich sein, etwa als »Kloßfrau«, bei der der Qualm der Räucherkerze einen Topf dampfen lässt.

Schwibbögen schmiedete man bis zum Zweiten Weltkrieg aus Eisen. Hölzerne gab es erst nach dem Krieg. Da die Originale aus dem Erzgebirge wie auch andere Volkskunstartikel zu DDR-Zeiten fast nur für harte Devisen exportiert wurden, gehörten selbst gebaute Schwibbögen zu den beliebtesten Bastlerobjekten. Per Laubsäge und Schablone aus Sperrholzplatten ausgeschnitten, fehlten sie in fast keinem ostdeutschen Haushalt.

Die Entwicklung sich drehender Weihnachtspyramiden, dank Flügelrad mit Kerzenwärme angetrieben, wurde im Erzgebirge mit dem Aufkommen der billigen Paraffinkerzen um 1830 begünstigt. Verwandt ist die von Figuren - etwa von Krippen- oder Waldszenen - besetzte Konstruktion mit den Drehbäumen im Spreewald sowie den Perjamiden, die auf Berliner Weihnachtsmärkten erst im 19. Jahrhundert durch geschmückte Weihnachtsbäume ersetzt wurden.

Neben nach wie vor klassischen Motiven umfasst das Repertoire des erzgebirgischen Kunsthandwerks mittlerweile auch viele neue zeitgenössische. Mit seinen oft humorvollen Figuren, die stets aufs Notwendigste beschränkt sind und dennoch äußerst lebendig wirken, prägt Björn Köhler seit Jahren das moderne Gesicht erzgebirgischer Holzkunst entscheidend mit. Auf seiner Website sieht man den Eppendorfer Designer in einem Video. Es zeigt zunächst den Wald, dann sein Atelier.

»Für jeden gefällten Baum tragen wir eine Verantwortung, dieses Stück Holz wieder in etwas Schönes zu verwandeln, in etwas, das Freude macht«, sagt Björn Köhler in dem kurzen Film. Schon ein Blick in die Produktauswahl zeigt überzeugend, dass ihm das gelingt. Da rocken Weihnachtsfrauen und -männer mit Gitarre oder Saxophon und fahren Motorrad, schleppen bärtige Weihnachtsbabys im Rucksack oder schieben sie im Kinderwagen. Rentiere und Elche tragen Pudelmützen.

Mit einem einfachen Gestaltungsprinzip hat Karsten Braune eine ganze Generation neuer Räucherfiguren geschaffen. Jedes seiner »Kugelmännel« stellt der Pulsnitzer Designer aus Kugeln und deren Teilen her. In langjähriger Zusammenarbeit mit der Seiffener Volkskunst eG entstanden zahlreiche Motive - darunter eine Drachenfamilie sowie die »Ur-Kugler«, eine Steinzeitsippe. Die Verbindung zum Erzgebirge erklärt Braune - mit Ironie - »historisch«: »Die Geschichte der Region hat ja nicht mit der Erfindung des Bergbaus begonnen. So gesehen reicht die Tradition dieser Figurenmotive bis in die Urzeit zurück.«

www.dregeno.de/weihnachtsmarkt

www.bjoern-koehler.de

www.jux-online.de

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