- Kommentare
- Medien und Corona
Rückwärts nimmer
Leo Fischer über das Problem von Rückblicken in diesem Jahr
Das Jahr neigt sich dem Ende zu, die Zeit für Rückblicke ist gekommen. Einen Rückblick, den viele scheuen werden, ist der auf die Anfangsmonate der Corona-Pandemie. Denn der würde bei vielen Medienhäusern bedeuten, sich krasse Fehler einzugestehen: Die Nachrichten aus dem abgeriegelten Wuhan, Meldungen von Neuinfizierten in anderen chinesischen Städten und schließlich in Europa und Amerika wurden mit einer in der bisherigen Mediengeschichte wohl einzigartigen Mischung aus Eskalation und Beruhigung begleitet. Mit einer Art genussvollem Schauder wurde von zurückgeschickten Flugzeugen, dem isolierten Kreuzfahrtschiff »Diamond Princess« und von unter Quarantäne gestellten Reisenden berichtet, während gleichzeitig vor Bräsigkeit triefende Kommentare die Parole »Keine Panik!« ausgaben.
Der Topos der Berichterstattung war: Nein, dieses rückständige Asien - bei uns kann das aber nicht passieren! Hämische Berichte über unzureichende Hygienebestimmungen auf asiatischen Lebensmittelmärkten, Gruselgeschichten über asiatische Essgewohnheiten; ja, man war sich nicht zu niedrig, noch Hinweise aufs korrekte Händewaschen in die Leitartikel zu hieven.
Auch die chinesischen Behörden konnten es deutschen Medien nicht recht machen: Sie waren in ihrem Handeln gleichzeitig viel zu entschlossen und viel zu zögerlich. Die Abriegelung einer ganzen Stadt wurde als Panikreaktion dargestellt (»drakonisch«, »Berliner Morgenpost«); gleichzeitig wurde China dafür kritisiert, das Ausmaß der Krise viel zu lang vertuscht zu haben. Stellvertretend für die meisten meinte Axel Dorloff aus dem ARD-Studio Peking, die Entlassung zweier Gesundheitsbeamter (»Sündenböcke«) als Symptom eines »Versagen des eigenen Systems« auszumachen. Doch schon vor Corona konnte man sich die Notaufnahmen eines beliebigen deutschen Krankenhauses ansehen, konnte da in die von Erschöpfung gezeichneten Gesichter von Pflege- und Behandlungspersonal blicken und hatte eine Vorahnung, dass das Vertrauen in das von Klinikkonzernen, Arbeitskampf von oben und brutalen Spardiktaturen zerrüttete deutsche Gesundheitssystem nahezu gänzlich unbegründet war.
Die Berichterstattung war derweil eine andere: »Ein deutscher Ingenieur berichtet aus Schanghai«, hieß es etwa in der »Welt«. Da kam zusammen, was zusammen gehört: Der deutsche Ingenieur, höchste Ausformung des Weltgeistes, liefert objektive Wahrheit. Der Mann musste Unglaubliches durchleiden: »Ich könnte jetzt berichten, wie schön unser Thailand-Urlaub war. Spielen und rutschen mit den Kindern im Pool. 30 Grad, Sonne, Strand. Aber der Urlaub war unvollendet.« In der »FAZ« kam im vollen Ernst ein Wissenschaftler zu Wort, »der den Regisseur Steven Soderberg bei seinem Film ›Contagion‹ beraten hat« - denn alles, was im Ausland geschieht, ist ein Film, sofern es nicht deutsche Ingenieure im Planschbecken stört.
Währenddessen berichteten asiatische Menschen in Deutschland von bizarren Vorfällen. Da setzten sich Leute in öffentlichen Verkehrsmitteln von ihnen weg, entrissen ihnen Kinder oder überzogen sie mit Schmähungen. Im »Focus« handelte Jan Fleischhauer unter der Überschrift »Bin ich Rassist, wenn ich in U-Bahn (sic) nicht neben Chinesen sitzen will?« Vorfälle der genannten Art als bedauernswerte Kollateralschäden ab. Und hatte noch die Chuzpe, die rassistische Paranoia mit einer »Frau« zu vergleichen, »die auf dem Nachhauseweg drei Männer auf sich zukommen sieht«.
Wenn das Genre der Jahresrückblicke allmählich aus der Mode kommt, hat das nicht zuletzt auch Selbstschutzfunktion. Der beste Schutz vor solchen Rückblicken wäre freilich nur, überhaupt nicht mehr zu schreiben.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.