Stimme und Herz
Ein Buch sammelt verschiedene Begegnungen mit dem großen Sänger Peter Schreier
»Oh du fröhliche, oh du selige gnadenbringende Weihnachtszeit! Welt ging verloren, Christ ward geboren. Freue, freue dich, oh Christenheit.« Gerade in diesen Tagen mag in vielen Wohnungen sein samtener Tenor zu hören sein: »Peter Schreier singt Weihnachtslieder« gibt es inzwischen auch als CD. Die gleichnamige Schallplatte von 1975 ist mit 1,4 Millionen verkauften Exemplaren die erfolgreichste in der Geschichte der DDR gewesen - und wurde zum Dank für Strumpfhosen, Lux-Seife, Zitronat und Palmin zum Fest natürlich auch gern »in den Westen« verschickt. Dabei waren vergleichsweise viele Kirchenlieder auf der Platte. Auch das gehört ja zu Peter Schreier: dass er sich singend ebenso wie zur klassischen Musik zu seinem evangelischen Glauben bekannte.
Am 25. Dezember 2019 ist Schreier verstorben. Nach langer Krankheit, was manche womöglich nicht wissen, die seine unnachahmliche Stimme noch im Ohr haben. Auch wenn er nicht mehr auf Konzerttourneen in aller Welt unterwegs ist, es bleiben die zahlreichen Tonaufnahmen von ihm. Das jetzt im Sax-Verlag erschienene Buch ist ein Liebesdienst, weil doch noch so viel mehr über diesen Menschen und Künstler zu sagen ist. Das Titelfoto zeigt ihn bei einer Probe zu Bachs »Johannes-Passion« in Ulrichshusen. In kurzärmeligem Oberhemd legt er einen Finger an die Lippen, damit die jungen Sänger im Hintergrund ins Piano gehen. In den großen Opernhäusern der Welt war er von Beifall umtost, aber er hat auch nicht vergessen, dass er selber einst Kruzianer war.
Wobei Matthias Herrmann als Herausgeber vor allem Künstlerkollegen zu Wort kommen lässt, die sich an ihn erinnern und dabei die Besonderheiten seines Talents zu benennen versuchen. Das ist für den Dirigenten Hartmut Haenchen die »unglaubliche musikalische Sensibilität. Bei ihm stimmte jeder Ton, jedes Wort, jede Farbe.« Für den Trompeter Ludwig Güttler liegt eine persönliche Verbindung in der Liebe zu Bachs Werk. Für ihn wurde Peter Schreier schlicht und einfach »der Evangelist« aus dem »Weihnachtsoratorium«. Der Sänger Patrick Grahl lobt die selbstbewusste Bescheidenheit des berühmten Kollegen. Der Dirigent und Konzertorganist Hansjörg Albrecht sieht ihn als »Herzensmusiker« mit einer »unglaublichen Sendungskraft«. Die Sängerin Edda Moser erinnert sich an eine gemeinsame »Zauberflöten«-Aufführung in der Staatsoper Berlin. Ute Selbig, ebenfalls Sopran, an Glucks »Iphigenie auf Aulis« im Dresdner Kulturpalast ...
Was für eine Mühe es gewesen sein muss, diese Bekundungen und Erinnerungen von 30 berühmten Künstlerinnen und Künstlern zusammenzutragen! Hinzu kommen Reden zu Preisverleihungen und profunde Aufsätze zu Aspekten seines Wirkens in Österreich (Markus Vorzellner) und Japan (Kazuo Fujino). Unter dem Titel »Unerreicht lebendig« analysiert der Dirigent Fabian Enders die Leistung Peter Schreiers als Bach-Interpret. »Er hat uns mit Stimme und Herz gesegnet«, sagte Markus Deckert, Pfarrer in Schreiers Heimatgemeinde in Loschwitz, in seiner Predigt beim Abschiedsgottesdienst am 8. Januar 2020 in der Dresdner Kreuzkirche. »Jede und jeder unter uns trägt seine Erinnerungen hierher.«
Für mich sind es auch Erinnerungen an Hans-Joachim Kynaß, den langjährigen Musikkritiker der Zeitung »Neues Deutschland«, der alljährlich bei den Salzburger Festspielen gerade über Peter Schreier schrieb und für ihn schwärmte wie für keinen anderen Künstler, und an die Dichterin Eva Strittmatter, die mit Peter Schreier befreundet war und in unserem Gespräch seine »sehr, sehr liebenswürdige Ausstrahlung aus Enthusiasmus, Musikalität, Menschlichkeit« hervorhob. Besonders ergriffen war sie davon, wie er als über 70-Jähriger Schuberts »Winterreise« sang. »Ich habe ihn angerufen und habe gesagt: Ja, jetzt kannst du es singen. Die Stimme ist älter, der Gesang ist tiefer, das Leiden reißt Welt herein. Absolut.«
Matthias Herrmann (Hg.): Begegnungen mit Peter Schreier. Sax-Verlag, 256 S., geb., 24,80 €.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.