Allzu stille Nacht im Weihnachtsland

Wie Kunsthandwerker und Traditionsvereine im Erzgebirge den Advent unter Corona-Bedingungen erleben

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 10 Min.

»Hau ruck! Hau ruck! Hau ruck!« - so wird im Weihnachtsland eigentlich die Weihnachtszeit eröffnet. Die akustische Unterstützung aus vielen Kehlen gilt im sächsischen Erzgebirge als hilfreich, wenn es darum geht, die Pyramiden auf den Marktplätzen in Gang zu setzen. Jene in Annaberg-Buchholz etwa, 10,5 Meter hoch, mit 18 geschnitzten Figuren bestückt: der in der Bergstadt gebürtige Rechenmeister Adam Ries, die Textilunternehmerin Barbara Uthmann, Bergleute, Engel. Ist das letzte »Hau ruck!« verklungen, setzen sich die Drehteller mit den Figuren in Bewegung, und die Lichter leuchten auf: auf der Pyramide, dem Weihnachtsbaum, dem Markt voller Buden. Mit dem traditionellen Pyramidenanschieben am Freitag vor dem 1. Advent, sagt Jürgen Kannegießer, »beginnt für uns im Erzgebirge die schönste Zeit«.

In diesem Jahr ruft niemand über den Annaberger Markt. Vereinzelt, mit Abstand, stehen ein paar Neugierige auf dem Pflaster. Wo sonst dichtes Gewimmel herrscht, huscht lediglich ein Techniker hin und her und prüft Stecker. Zehn nach sechs flammt das Licht auf; die Pyramide kommt erstaunlicherweise auch ohne verbales Anschieben in Gang. Ein gedämpftes »Ah!« hinter Masken ist zu hören; vier Bläser spielen »Sind die Lichter angezündet« vom Rathausbalkon. Danach zerstreuen sich die Anwesenden zügig. »Das besondere Flair«, sagt Kannegießer, »ist weg.«

Weihnachten im harten Lockdown ist eine befremdliche, betrübliche, ernüchternde Erfahrung. Das gilt landauf, landab; aber die Menschen im Erzgebirge trifft es wohl doch noch ein Stück härter. Das habe historische Gründe, sagt Kannegießer: der Bergbau, die harte Arbeit unter Tage, die Sehnsucht nach Licht, die »Mettenschicht« vor Heiligabend als Hoffnungszeichen, weil die Tage endlich wieder länger wurden. All das lebt in Erzählungen, in Liedern, in der Mentalität der Leute weiter; es sei, sagt Kannegießer, eine »uralte Tradition«, die auch er pflegt: Er trägt selbst bei diesem eher tristen Anschieben der »Peremett« Bergmannsuniform; auf seiner Maske glänzen die gekreuzten Schlägel und Eisen, die Insignien der Bergleute.

Kannegießer ist Bergmann a.D. Er hat an der Bergakademie in Freiberg studiert und ist drei Jahre als Steiger in die Zinngrube Ehrenfriedersdorf eingefahren, bevor diese 1990 stillgelegt wurde. Jetzt trägt er das »Berghabit« - schwarze Jacke mit goldenen Knöpfen; weiße Hosen mit Knieleder; grüne Kappe mit Federbusch - als 1. Vorsitzender des Annaberger Bergmusikkorps, eines 100-köpfigen Ensembles, das vorwiegend mit Blechblasinstrumenten regionales Lied- und Kulturgut pflegt. Der Advent, sagt Kannegießer, sei Hochsaison: teils mehrere Bergparaden an jedem Wochenende, die größte am 4. Advent in Annaberg-Buchholz. Über 1000 Mitwirkende, mehr als 20 000 Zuschauer, »ein absoluter Gänsehaut-Moment«.

Oder, wie man im Winter 2020 sagt: ein potenzielles Superspreading-Event. Mengen weit gereister Menschen dicht an dicht gedrängt in engen Gassen; Instrumente wie Trompete und Tuba, die wegen des druckvollen Luftstroms als Aerosolschleudern gelten. Bis Oktober, sagt Kannegießer, habe man in gewissem Umfang noch musizieren können: Abstände von zwei mal drei Metern; Proben im Freien. Dann gingen die Infektionszahlen nicht zuletzt im Erzgebirge in die Höhe; zeitweise war der Landkreis bundesweit Spitzenreiter bei den Inzidenzwerten. Jetzt ist das öffentliche Leben heruntergefahren; viele gesellige Aktivitäten finden nicht statt, darunter auch musikalische wie Chorgesang und eben Blasmusik. Die Bergparaden fallen aus. Während Kannegießer sonst Teil einer Art musikalischer Karawane ist, die vier Wochen lang durch die sächsischen Bergstädte zieht, wird er nun ungewohnt viel freie Zeit haben.

Kannegießer hält die Beschränkungen für geboten. »Wir halten uns dran«, sagt er, »das ist keine Frage.« Er macht sich aber auch Sorgen. Kurz bevor die Annaberger Pyramide in Gang gesetzt wurde, stand er deshalb auf der Ladefläche eines Lastwagens, neben Busunternehmern, Gastwirten, einer Friseurin oder dem Betreiber einer Eisbahn. Die Geschäftsleute wollten auf ihre schwierige wirtschaftliche Lage im Lockdown hinweisen. Man leide an Corona, sagt der Moderator: »Nicht an der Krankheit, sondern an den Maßnahmen und wie sie umgesetzt sind.«

Kannegießer weist auch auf wirtschaftliche Folgen für das Bergmusikkorps hin: Wo es im vergangenen Jahr 86 Auftritte und entsprechende Erlöse gab, waren es in diesem Jahr zwei. »Die Ausgaben bleiben, die Einnahmen sind gleich null«, sagt er. Für drängender hält er aber die Frage, ob und wie die Tradition durch die Pandemie kommt. Die ist - anders als in manchem Männerchor, Kaninchenzüchterverein oder Kegelclub - keine Angelegenheit von ausschließlich älteren Herren, sondern wird, obwohl der Bergbau im Erzgebirge kaum noch eine wirtschaftliche Bedeutung hat, nach wie vor generationsübergreifend gepflegt. Das älteste Mitglied im Musikkorps ist 92 Jahre alt, das jüngste sieben, und der Anteil von Kindern und Jugendlichen liegt bei 30 Prozent. »Wir gehen in Schulen«, sagt Kannegießer, »wir bieten Einzelunterricht.« Ab der 8. Klasse erhalten die jungen Musiker ihr eigenes Berghabit und nehmen an bei Bergparaden teil: »Da ist ihnen der Stolz anzusehen.«

Was wird daraus, wenn nicht nur die Paraden wegfallen, sondern auch die wöchentlichen Proben und die damit verbundene Regelmäßigkeit? »Für junge Leute gibt es viele Verlockungen«, sagt Kannegießer. Dass diesen das Üben mit dem Instrument zum Opfer fällt und irgendwann das Interesse an der Bergmusik überhaupt, hält er für »kreuzgefährlich«. Der Verein versuche Alternativen zu finden, sagt er. Welche das im Lockdown sein können, ist vorerst offen.

Allerdings: Kannegießer ist zwar Bergmann, aber er konzentriert sich nicht auf das Dunkle im Schacht, sondern auf das Licht an dessen Ende. Die Pandemie, da ist er überzeugt, wird vorübergehen, der Advent 2021 wieder voller Musik sein. Sein Ensemble feiert zuvor 40-jähriges Bestehen: »Da sind wir voll in der Planung.« Das Erzgebirge, sagt er, »hat schon ganz andere Probleme gemeistert. Da überstehen wir auch Corona.« Bevor er vom Lastwagen steigt, setzt er wie alle Redner eine Kerze auf einen Schwibbogen. Das Motto der Aktion ist: »Licht im Schacht«.

Szenenwechsel: ein paar Tage später in Seiffen, nahe am Kamm des Erzgebirges. Die kleine achteckige Bergkirche von 1779, deren hölzerne Nachbildung dieser Tage in vielen festlich geschmückten Wohnungen steht, ist Inbegriff des Weihnachtslandes Erzgebirge; die »Männelschnitzer«, die im 2000 Einwohner zählenden »Spielzeugdorf« in vielen Häusern Werkstätten betreiben, liefern die Ausstattung dafür: Spanbäume, Nussknacker, Miniaturkrippen. Die örtlichen Kunsthandwerker seien »die Weihnachtsmacher«, wie ein Slogan in schwungvoller Schrift an der Wand von Julia Kröners Büro verkündet.

Kröner führt die Geschäfte der vor gut 100 Jahren gegründeten Genossenschaft Dregeno, die für derzeit 120 Spielzeugmacher und Kunsthandwerker den Vertrieb besorgt: auf Weihnachtsmärkten und bei Vertragshändlern, in Kaufhäusern und Baumärkten, in den USA und in Asien. Sechs Millionen Euro setzt die Genossenschaft in normalen Jahren um, davon 1,5 Millionen allein im Dezember. Die Kunden »suchen ein Weihnachtsgefühl«, sagt Kröner. Sie finden es im Erzgebirge mit seiner Bergbautradition und vergleichsweise lebendigen Religiosität - und in Lichterfiguren, Räuchermännern und Engeln, in denen es »mitverkauft« werde: »Es gibt den Menschen etwas, wie die Figuren sie anschauen.«

Viele kommen im Advent nach Seiffen, um das Weihnachtsgefühl zu erleben: in den Läden an der Hauptstraße, bei Aufführungen mit »lebendigem Spielzeug«, an Glühweinständen, bei Andachten in der Kirche. »Viele besuchen uns seit Jahren«, sagt Kröner: »Manche sehen ›ihren‹ Handwerker als Teil der Familie.« Die Folge: ein Strom an Touristen, Reisebusse, übervolle Parkplätze auch an Wochentagen. Süßer die Kassen nie klingeln: Allein in den Läden in Seiffen macht die Dregeno eine halbe Million Euro Umsatz.

In diesem Corona-Advent freilich sind die Parkplätze leer, selbst als der Lockdown noch nicht von »light« zu »hart« hochgeregelt ist. Budenbetreiber wenden nicht Bratwürste, sondern drehen Däumchen. Bläsermusik, die von der Kirche herüberhallt, lädt nicht zur Andacht, sondern zu einem Begräbnis. Am ersten Adventssonntag gab es immerhin noch Publikumsverkehr, »zehn Prozent von dem, was üblich ist«, sagt Kröner. Als Medien aber von ungezügeltem Einkaufsgetümmel im Hochrisikogebiet berichteten, griffen Behörden durch; am 2. Advent wiesen Polizisten Besucher am Ortsschild ab. Kröner hielt das für maßlos: »Man hat ein Exempel statuiert.« Die Vereinnahmung durch die AfD, die Seiffen als »gallisches Dorf« bejubelte, geht ihr gegen den Strich. Die »gähnende Leere« im Weihnachtsdorf sei trotzdem bitter: »Das kann man nicht wieder gutmachen.«

Das gilt auf jeden Fall in wirtschaftlicher Hinsicht. Die Geschäftsaussichten im Corona-Jahr sind düster, sagt Kröner. Da hilft es nicht, dass sie selbst eigentlich sogar besonders für Krisen gewappnet ist. Sie hat nach Produktdesign noch Systemdesign studiert; ein Fach, in dem es »um das Spiel mit Unsicherheit und Szenarien« gehe. Gewissermaßen das Fach zum Corona-Jahr 2020, in dem Grenzen zu- und wieder aufgingen, Geschäfte geschlossen, geöffnet und erneut geschlossen wurden, Weihnachtsmärkte abgesagt wurden. Mal schloss sich dieser Vertriebskanal, dann jener; mal war dieser offen, mal ein anderer; »wie Wasser, das in einer Wanne hin und her schwappt«, sagt Kröner. Der Markt brach nie völlig ein, aber »eine Million verlieren wir definitiv«.

Vom Klagen wird die Lage aber nicht besser. Also haben sie bei der Dregeno nach Alternativen gesucht - und einen virtuellen Weihnachtsmarkt eröffnet: 14 Buden, die Kunden am Computer und sogar per Virtual-Reality-Brille besuchen können. Es gibt viel Geschnitztes und Gedrechseltes, dazu Räucherkerzen und Liköre aus der Region; Filme über die Hersteller; sogar in die Bergkirche lädt der Pfarrer ein. Man wolle die Hersteller unterstützen und »dafür sorgen, dass sie im Gedächtnis bleiben«. Das klappt: Zehn Prozent des Online-Umsatzes finden auf diesem »Markt ohne kalte Füße und ohne Personalaufwand statt«, wie Kröner augenzwinkernd sagt. Ganz preiswert war der Markt nicht, aber es sei ein Modell für die Zukunft: »Das Onlinegeschäft wird bleiben«, sagt sie, »und ich glaube auch nicht, dass im Advent 2021 alle Restriktionen verschwunden sind.«

Am Stand der Dregeno auf dem virtuellen Markt ist auch Peter Ulbricht vertreten. Seine echte Werkstatt hat er in einem alten Haus oberhalb der Kirche. Vom Fenster geht der Blick über die Hügel; auf der Werkbank liegen Holzköpfe, so klein wie Erbsen; dazu Arme und Beine, die der Bemalung harren. Sie gehören zu Kletterfiguren, die man durch Zugbewegungen eine Schnur hinauf schicken kann: Bergsteiger und Matrosen, Schornsteinfeger, Feuerwehrleute. Sie sind das Markenzeichen des Familienbetriebs mit Tradition bis ins 18. Jahrhundert. Samuel Gottlob Ulbricht, geboren 1771, war der erste Drechsler in einer Familie, die zuvor vom Bergbau gelebt hatte und nach dessen Niedergang ohne Broterwerb dastand. »Man hat aus der Not heraus etwas erfunden«, sagt Nachfahr Peter Ulbricht: »Die entsprechende Lücke zu finden ist die Kunst.«

Die Schicksale seiner Vorfahren und ihrer Firma relativieren ein wenig die Sorgen, die auch Ulbricht in diesem Jahr hat. Eigentlich wäre er dieser Tage in Ulm, wo er mit zwei Kollegen einen Stand auf dem Weihnachtsmarkt betreibt. »Wir hätten jetzt 30-jähriges Jubiläum gehabt«, sagt er. Doch der Markt ist abgesagt, die Einnahmen entfallen. Auch in der Heimat »heißt Weihnachten eigentlich Galopp«, sagt Ulbricht. Sein Sortiment umfasst neben Weihnachtsklassikern viele zeitlose Artikel; trotzdem ist die Adventszeit für die Männelschnitzer Hochsaison. Händler bestellen immer später, erwarten aber, dass flott geliefert wird. Dann werden Figuren im Akkord bemalt, verleimt und verpackt.

Ulbricht hat das Krisenjahr bisher einigermaßen gut überstanden, »mit einem blauen Auge«, sagt er. Gleichzeitig weiß er, dass die Lager noch voll Osterfiguren von diesem Jahr liegen, die wegen des ersten Lockdowns nicht verkauft werden konnten; neue Ware muss da erst einmal nicht produziert werden. Auch für Weihnachten 2021 »gibt es keine Garantien«, sagt er. 2020 habe er das Vorjahresergebnis fast erreicht. Ob das auch im kommenden Jahr gilt, ist mehr als ungewiss.

Dennoch stimmt Ulbricht nicht in die verbreiteten Kassandrarufe ein. Dafür sorgten »eine gewisse Gelassenheit und Gottvertrauen«, sagt er; aber auch der Blick in die Geschichte. »Unsere Altvorderen hatten größere Schwierigkeiten und haben sie überstanden«, sagt er - selbst in jüngerer Zeit. Er erinnert sich an die DDR-Jahre, als die privat gebliebene Firma zwar in den Westen exportierte, es aber Bedarfsscheine für jeden Pinsel und jedes Stück Holz gab. Oder, noch gravierender, der Eintritt in die Marktwirtschaft vor 30 Jahren, als mit der Währungsunion schlagartig alle Aufträge wegbrachen und eine »lange Durststrecke« einsetzte.

In Ulbrichts Werkstatt hängt eine Karikatur: ein Frosch im Schnabel eines Storchs, dazu der Spruch »Niemals aufgeben!« Das Motto gilt auch und gerade für Weihnachten 2020. Dem Weihnachtsland Erzgebirge steht eine besonders stille Nacht bevor. Ulbricht ist Mitglied in einem Posaunenchor; spielen darf auch dieser derzeit nicht. »Da hat man ein gefühltes Vakuum«, räumt Ulbricht ein. Aber Weihnachten »feiern wir trotzdem«, fügt er bestimmt hinzu: »Da lassen wir uns nicht aus der Ruhe bringen.«

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