Neue Regeln, neue Sieger
Warum Überflieger wie Ryoyu Kobayashi im Skispringen ihre Überlegenheit verlieren
Es ist gerade einmal zwei Jahre her, als Ryoyu Kobayashi bei der Vierschanzentournee alle vier Springen gewonnen hat. Auch im Vorjahr startete der Japaner mit einem Sieg in Oberstdorf in den Skisprung-Grand-Slam. In diesem Winter rechnet bei der am Montag beginnenden Tournee kaum einer mit dem Überflieger - Kobayashi liegt im Gesamtweltcup gerade mal auf Platz 16. Sein einzigartiger Flugstil funktioniert nicht mehr so wie früher und das hat vor allem etwas mit den vor dieser Saison eingeführten Regeländerungen zu tun. Die für eine perfekte Position im Flug wichtigen Keile im Schuh sind jetzt in der Größe begrenzt und müssen an beiden Füßen symmetrisch sein.
»Es ist extrem gut, dass die Regel da ist. Der Kobayashi hatte Dinger drin, die waren uferlos«, sagt der dreimalige Weltmeister Markus Eisenbichler ungewohnt offen. Der Bayer, der vor diesem Winter lediglich ein Weltcupspringen gewinnen konnte, hat bereits zwei Siege auf dem Konto. Der quasi aus dem Nichts aufgetauchte Norweger Halvor Egnar Granerud sogar fünf. Die neuen Keil-Regeln haben den Skisprung-Zirkus durcheinandergerüttelt. Auch Karl Geiger, der Gesamtweltcup-Zweite des vergangenen Winters und neue Skiflug-Weltmeister, musste sein Material verändern: »Die Keile, die ich verwendet habe, waren nicht mehr konform. Aber das ist gut so, schließlich ist das Skispringen dadurch sicherer geworden.«
Genau das war auch der Hauptgrund der Regelanpassungen. »Die Unterschenkel der Springer wurden durch die Schuhe und Keile nach vorn innen geführt. Damit konnte man die Ski in der Luft wunderschön plan in den V-Stil legen«, erklärt die deutsche Skisprunglegende Martin Schmitt. Je nach physiologischen Voraussetzungen waren die Keile an beiden Füßen auch unterschiedlich groß. Das führte zwar zu mehr Stabilität und aerodynamischen Vorteilen in der Luftfahrt. Dafür krachte es bei der Rückkehr auf den Boden umso häufiger, weil durch die extreme Materialwahl eine physiologisch normale Landung extrem schwierig geworden war. Es gab eine Serie von schweren Kreuzband-Knieverletzungen, von denen im deutschen Team unter anderem die Skisprung-Olympiasieger Andreas Wellinger und Severin Freund sowie Stephan Leyhe betroffen waren.
Die kleineren und symmetrischen Keile sorgen nun dafür, dass man nicht mehr wie einst Kobayashi katapultartig nur nach vorn rausspringen und sich aufs Luftpolster legen kann. Ein kräftiger Absprung ist wieder wichtiger geworden. Dazu kommt die im hochsensiblen Skisprungsport ungemein wichtige psychologische Komponente. »Man hat weniger Sorge, jeder hat jetzt das gleiche Material. Da kann man sich die Gedanken darum sparen«, sagt Eisenbichler.
Die neueste Regeländerung steht in einer Reihe von vielen, die den Sport und seine Sieger nachhaltig verändert haben. 2004 wurde zum Beispiel die Body-Mass-Index-Regel (BMI) eingeführt. Es war die Reaktion auf die Tendenz zum Hungern im Skispringen, die zum Beispiel den letzten deutschen Tourneesieger Sven Hannawald (2002) in die Magersucht getrieben hatte. Er wog bei 1,84 Metern Größe nur noch 64 kg. Wer leicht ist und mehr Tragfläche hat, fliegt besser. Deshalb müssen Springer, die unter dem vorgeschriebenen BMI von 21 liegen, schon seit langem kürzere Ski benutzen. Extreme Leichtgewichte haben es seitdem schwerer.
Am Material wurde trotzdem weiter herumgetüftelt: Der Schweizer Simon Ammann landete dabei den größten Coup. Er entwickelte vor Olympia 2010 in Vancouver einen gekrümmten Bindungsstab, der eine bessere Flugposition ermöglichte. Ammann gewann zweimal Gold, büßte seinen Vorteil aber schnell ein und verlor seine Überfliegerposition, als auch die Konkurrenz die neue Technologie nutzen konnte. Die Keile waren nun die neueste Evolution in der Formel 1 des Winters, in der die Tüftelei auch nach den jüngsten Regeländerungen ganz sicher weitergehen wird.
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