Bosniens Flüchtlingsmisere: Hat Europas Politik versagt?

Hunderte Flüchtlinge und Migranten sind in Bosnien ohne winterfestes Obdach

  • Gregor Mayer, dpa
  • Lesedauer: 4 Min.

Bihac. Die Lage für Hunderte Migranten und Flüchtlinge im Nordwesten Bosniens wird immer unhaltbarer. In improvisierten Behausungen campieren sie vor dem abgebrannten Camp Lipa, 25 Kilometer südöstlich der Stadt Bihac. Drinnen, im Camp, errichteten Soldaten der bosnischen Armee die ersten Militärzelte. Bezugsfertig waren sie am Sonntagmittag nicht, der Anschluss an Strom und Wasser und die Beheizung waren nicht gewährleistet.

Das bosnische Rote Kreuz und internationale Hilfsorganisationen wie SOS Balkanroute versorgen die obdachlosen Migranten notdürftig mit Trinkwasser und Lebensmitteln. Doch die meisten von ihnen sind am vergangenen Freitag in einen Hungerstreik getreten. Sie wollen auf ihre Not und Verzweiflung aufmerksam machen. Wenn Kameras auftauchen, halten sie selbstgemalte Schilder hoch, auf denen steht: »Wir sind keine Tiere. Wir sind menschliche Wesen.«

Teller und Rand - der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Lesen Sie auch: »Europas Elend - Sebastian Bähr über die Lager Lipa und Kara Tepe«

Lipa war nur als Übergangslösung gedacht, nachdem man sie im September 2020 aus dem funktionierenden Camp Bira in Bihac ausquartiert hatte. Als Winterunterkunft war Lipa nicht geeignet. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) sperrte das Camp Ende des Vorjahrs zu, ein paar wütende Migranten zündeten zum Abschied Zelte und Container an.

Der bosnische Innenminister Selmo Cikotic wollte die Menschen in einer ehemaligen Kaserne im Umland von Sarajevo unterbringen. Proteste der örtlichen Bevölkerung verhinderten dies. Zurück nach Bira, hieß es dann. Das entschiedene Nein des Bürgermeisters von Bihac verhinderte auch das. Bosnien ist ein schwer regierbarer Staat, in dem sich die Regierung gegen lokale Politiker nicht durchsetzen kann.

Inzwischen ist es kalt im bosnischen Hochland, und es kann jederzeit wieder zu schneien beginnen. Die unbehausten Migranten frieren, sie wärmen sich mehr schlecht als recht an selbstgemachten Feuerstellen. Die Hilfsorganisationen befürchten, dass sie erkranken und sich gar den Tod holen können. »Die Leute werden aufgrund der Kälte anfangen zu sterben und es wird nicht das erste Mal sein, dass die bosnische Erde die Knochen geplagter Menschen zu sich nimmt«, schrieb die Flüchtlingshelferin Zehida Bihorac am Sonntag auf der Facebook-Seite von SOS Balkanroute.

In ihrem bitteren Statement spielte die Aktivistin auf den Krieg in Bosnien an, in dem von 1992 bis 1995 an die 100 000 Menschen ums Leben gekommen waren. Die ehemalige jugoslawische Teilrepublik hatte sich damals von Europa im Stich gelassen gefühlt, nachdem sie zuerst von Serbien überfallen und dann auch noch von Kroatien angegriffen worden war. Auch wenn diese Parallele völlig überzogen ist: Auch die heutige Flüchtlingsmisere zeugt von einem Versagen der europäischen Politik.

Nach den Flüchtlingswanderungen von 2015 verschloss sich ein Teil Europas gegenüber weiterer Zuwanderung. Aufgehalten werden sollen die Migranten möglichst an den Außengrenzen. Griechenland hält viele in teils menschenunwürdigen Lagern auf den Ägäis-Inseln fest. Ungarn errichtete an der Grenze zu Serbien einen Metallzaun. Wer sich dennoch über die »grüne« Grenze in die EU-Länder Ungarn, Bulgarien oder Kroatien wagt und von der Polizei gefasst wird, wird brutal außer Landes geschafft.

In Bosnien stecken mehrere Tausend Flüchtlinge und Migranten fest. Sie zieht es in den Nordwesten des Landes, in den Kanton Una-Sana mit der Hauptstadt Bihac und einer langgezogenen Grenze zu Kroatien. Sie lassen sich auf das sogenannte »Game« ein, das »Spiel«, den ungewissen Treck an kroatischen Grenzerpatrouillen vorbei ins Innere der EU. Inzwischen mehrfach belegt ist die aggressive Vorgangsweise der kroatischen Polizei: Die Beamten schlagen ertappte Migranten häufig krankenhausreif, nehmen ihnen Mobiltelefone, Geld und Schuhe weg, bevor sie sie über die Grenze nach Bosnien zurückdrängen.

Die Berichte, die das kroatischen Innenministerium einsilbig zu dementieren pflegt, sind seit langem bekannt. Es ist, als ob es der EU-Kommission in Brüssel, den Zielländern der Migranten im Norden und Westen Europas, darunter Deutschland, sogar ganz recht wäre, dass Länder an der EU-Außengrenze wie Kroatien, Ungarn, Bulgarien oder Griechenland Migranten schlecht behandeln, sie misshandeln und auf illegale Weise über Grenzen zurückschieben. Möglicherweise wird da mit dem Abschreckungsfaktor kalkuliert.

Das menschenrechtlich verbriefte Asylrecht ist an diesen Grenzen längst außer Kraft gesetzt. Tatsächlich dürften die meisten der in Bosnien frierenden jungen Männer - was auch zum Gesamtbild gehört - keine schutzbedürftigen Flüchtlinge, sondern Migranten auf der Suche nach einem besseren Leben sein. Aber um das festzustellen, hat jeder von ihnen das Recht auf ein ordentliches Asylverfahren. Doch die Zielländer brauchen sich damit nicht herumzuschlagen, wenn die Asylbegehrenden schon an den Außengrenzen der EU abgeschmettert werden - in der Regel ganz ohne Asylverfahren. dpa/nd

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!