Eine untilgbare Konsequenz aus deutscher Schuld

Warum die Linke bei der strikten Ablehnung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr bleiben muss

  • Gregor Schirmer
  • Lesedauer: 8 Min.

Je näher die nächste Bundestagswahl rückt, umso höher werden die Wogen der Diskussion über ein altes, aber nicht erledigtes Thema schlagen: Wie hält es die Linke mit den Einsätzen der Bundeswehr im Ausland? Nach heftigen Diskussionen hat sich die Linke 2011 in ihrem Erfurter Programm zu einer eindeutigen Position durchgerungen: Verzicht auf jegliche Beteilung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen gleich welcher Art und unabhängig davon, ob ein Beschluss des UN-Sicherheitsrats vorliegt oder nicht, sowie Heimholung der fast 1300 Bundeswehrangehörigen aus den laufenden Einsätzen.

Bei dieser Position muss es bleiben. Der Verzicht ist eine untilgbare und unverjährbare Konsequenz aus der Schuld des faschistischen Deutschlands an den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs mit 70 Millionen Kriegstoten und den wahrscheinlich 100 Millionen weiteren Todesopfern des faschistischen deutschen Mordregimes. Die Zahlen sind so ungeheuerlich, dass es eigentlich keiner weiteren Begründung für die Forderung nach rigoroser militärischer Enthaltsamkeit der BRD bedarf. Deutschland soll seiner gewachsenen Verantwortung für den Frieden nicht mit Waffengewalt, sondern mit dem Einsatz seines großen zivilen Potenzials nachkommen, die Bundeswehr in einem stark abgerüsteten Zustand zu Hause lassen und für den völlig unwahrscheinlich eintretenden Fall der Landesverteidigung sowie für solidarische Hilfe in Natur- und anderen Katastrophen bereithalten sowie im Übrigen die Rolle eines Kriegsdienstverweigerers aus historischen und politisch-moralischen Gründen übernehmen.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat das Töten von Menschen in Kriegen und anderen militärischen Auseinandersetzungen zwischen und zunehmend auch innerhalb von Staaten nicht aufgehört und das geht täglich weiter: Im Jahr 2019 wurden 23 Kriege und bewaffnete Auseinandersetzungen gezählt. Die Zahl der Todesopfer durch Waffengewalt seit 1945 liegt wahrscheinlich in der unfassbaren Größenordnung von Dutzenden Millionen Menschen.

Der Hauptschuldige dafür hat einen Namen: Imperialismus. Der Vietnam-Krieg hat, einschließlich der Toten in Laos und Kambodscha, 7 bis 8 Millionen Menschen den Tod gebracht, der Koreakrieg etwa 4,5 Millionen. Eine einigermaßen zuverlässige Schätzung der Gesamtzahl der Todesopfer der fortdauernden kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan seit dem Umsturz von 1978 bis heute gibt es bisher nicht. Sie liegt wahrscheinlich bei mehreren Millionen. Man darf natürlich die Todesopfer aus Naturkatastrophen und Seuchen nicht vergessen, Krisenzustände, bei deren Bewältigung auch die Bundeswehr helfen könnte.

Die Corona-Pandemie hat bisher eineinhalb Millionen Menschen den Tod gebracht. Allein in den Jahren 2006 bis 2018 betrug die Zahl der Todesopfer durch Terrorismus betrug ast 33 000. Nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO und des früheren UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Nahrung Jean Ziegler gibt es täglich Zehntausende Hungertote auf der Erde; jedes vierte Opfer ist ein Kind unter fünf Jahren. Es gibt noch vieles auf zivilen Wegen und mit zivilen Mitteln zu unternehmen, um die Zahl der Todesopfer zu minimieren. Das Töten von Menschen in Kriegen und zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikten muss endlich aufhören. So wollen es auch die UN-Charta und das deutsche Grundgesetz.

Die deutsche Linke darf bei Strafe ihres Untergangs nicht den Weg der Grünen gehen, die laut ihrem jüngsten Parteitag im »Notfall« durch ein Veto im Sicherheitsrat ohne eine Resolution des Rates, bereit sein wollen, militärisch loszuschlagen, wenn es denn sein muss. Da ist die Beschlussunfähigkeit des Rats keine Hürde für Auslandseinsätze der Bundeswehr. Die Grünen können ja sogar Kanzlerin oder Kanzler, wenn man sie ranlässt.

Die Linken sind aber nicht die Grünen, sondern eine sozialistische Partei, der jeder getötete Mensch ein Opfer zu viel ist, auch wenn es sich um einen der offiziell mit »nur« 42 im Zeitraum 2002 bis 2020 in Afghanistan registrierten »gefallenen« Bundeswehrsoldaten handelt. Tausende Frauen und Männer der Bundeswehr sind direkt oder indirekt mit Militäreinsätzen in allen Teilen unseres Globus befasst. Nach Angaben des Ministeriums für Verteidigung haben 114 deutsche Frauen und Männer den Auslandseinsatz mit ihrem Leben bezahlt. Das sind 114 zu viel.

Das Gewaltverbot der UN-Charta bezieht sich formell auf die zwischenstaatlichen Beziehungen. Aber realiter sind ohne das Handeln oder Nichthandeln von Staaten auch innerstaatliche und nichtstaatliche bewaffnete Konflikte kaum denkbar und heutzutage kaum möglich. Die Staaten sind und bleiben die realen Hauptakteure in Sachen Krieg und Frieden, bei der Anwendung militärischer Gewalt, bei der Drohung damit und der Unterlassung von beidem. Das ist keine Negation oder Herabsetzung nichtstaatlicher Friedenskämpfe und -bewegungen. Diese Kämpfe und Bewegungen müssen auch darauf gerichtet sein, dass sich die Staaten, zuvörderst die jeweils eigenen, friedlich und friedensfördernd verhalten.

Die Hauptverantwortung für die Wahrung und Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit trägt nach Artikel 24 der Charta der UN-Sicherheitsrat. Der Rat soll dieser Hauptverantwortung durch Beschlüsse über Maßnahmen nachkommen, die in den Kapiteln VI und VII der Charta beschrieben sind. Das Kapitel VII sieht auch Mittel militärischer Gewalt vor. Aber vor dem Kapitel VII kommt das Kapitel VI mit der Pflicht zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten mit zivilen Mitteln, die bisher nur selten irgendwo ausgeschöpft wurden. Das Sicherheitssystem der Uno hat nicht funktioniert und die Hauptschuld daran tragen die USA und die Nato.

Beschlüsse des Sicherheitsrats kommen nur zustande, wenn keines der fünf ständigen Mitglieder China, Russland, USA, Frankreich und Großbritannien dagegen ist. Jedes von ihnen hat ein Vetorecht und kann den Sicherheitsrat lahmlegen. An der Sonderstellung der Fünf und ihrem Vetorecht lässt sich nichts ändern. Die Reform des Sicherheitsrats ist ein open-end-Thema mit geringen Aussichten auf Lösungen.

Aber der Sicherheitsrat wird gebraucht. Die fünf ständigen Mitglieder könnten sich jährlich einmal und bei Bedarf als informeller Club der fünf Ständigen auf der höchsten Ebene der Staats- und Regierungschefs zur Beratung aktueller Fragen von Weltfrieden und internationaler Sicherheit zusammenfinden. Durch solche Treffen kann das auf dem Papier stehende Sicherheitssystem der Uno vielleicht belebt werden. Die Zustimmung aller fünf ständigen Mitglieder verleiht einer Resolution des Sicherheitsrats ein hohes Maß an Autorität und Aussicht auf Wirksamkeit. Eine Gefahr, dass sich ein Club der fünf Ständigen zu einer Art Weltregierung aufschwingt, besteht angesichts des Fortbestehens des Vetorechts nicht.

In Gestalt der Charta der UNO verfügen wir über eindeutige Friedensregelungen. Das Kernstück ist das Verbot der Anwendung und Androhung militärischer Gewalt in den zwischenstaatlichen Beziehungen durch Artikel 2, Ziffer 4. Im fortdauernden Afghanistan-Krieg fanden in einem einzigen Jahr (2019) fast 400 Zivilisten den Tod. Nicht nur die Anwendung von Waffengewalt, also das Sprechen der Waffen, sondern aus gutem Grund schon die Drohung damit, wie sie die USA und die Nato betreiben, unterliegt dem Verbot. Zu den verbotenen Androhungen von Gewalt sollten auch militärische Übungen und Manöver, die Entwicklung und Produktion von Waffen sowie der Handel mit ihnen zu aggressiven Zwecken, wie sie die Nato praktiziert, gerechnet werden.

Die Forderung einer pauschalen Ablehnung jeglicher UN-Blauhelmeinsätze halte ich nicht für richtig, falls der seltene Fall einer Einigung der fünf Ständigen eintritt und der betroffene Staat einverstanden ist. Aber bei der Nichtbeteiligung der Bundeswehr muss es bleiben. Es wäre verfehlt, in Blauhelmeinsätzen recht viel mehr als brüchige Notlösungen zu sehen. Immerhin: Der fortdauernde und laufend verlängerte Einsatz der Blauhelme in Zypern trägt sicherlich zur Beruhigung des Dauerkonflikts zwischen der Türkei und Griechenland bei. Eine andere Frage ist, dass Deutschland seine Verantwortung für den Frieden mit seinen enormen zivilen Mitteln und Möglichkeiten wahrnehmen sollte. Auch schwache Mittel müssen im Kampf um Frieden und Sicherheit genutzt werden.

Das Pendant zum Gewaltverbot ist die Verpflichtung der Staaten aus Artikel 2, Ziffer 3 der Charta, »ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei[zulegen], dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden«. Streitigkeiten zwischen Staaten werden sich wohl nicht vermeiden lassen. Das geltende Völkerrecht bietet ein hoch entwickeltes System von Normen und Institutionen zur friedlichen Streitbeilegung. Die Charta enthält etwa ein eigenes »Kapitel VI. Die friedliche Beilegung von Streitigkeiten«. Es gibt den den Internationalen Gerichtshof und eine Vielzahl schiedsgerichtlicher Verträge und natürlich die Mittel der Diplomatie, wie sie dem Generalsekretär der Uno und seinem Apparat zur Verfügung stehen. Man kann nicht sagen, dass dieses System von Normen und Institutionen in der praktischen Außenpolitik die gebührende Rolle spielt. Auch die nichtstaatliche Friedensbewegung beruft sich zu wenig und zu unkonkret auf die einzelnen Elemente dieses Systems.

Die Charta hat den fünf Staaten eine besondere Verantwortung übertragen. Ihre herausgehobene Stellung und Verantwortung ist in der Charta genau definiert und wird von allen UN-Mitgliedern, also von praktisch allen Staaten der Welt, kraft ihres Beitritts zur Uno akzeptiert, Die Beschlüsse des Sicherheitsrats sind für alle UN-Mitglieder verbindlich. In Artikel 24 erkennen die UN-Mitglieder an, dass der Sicherheitsrat bei der Wahrnehmung seiner Verantwortung »in ihrem Namen handelt«.

Man kann darüber räsonieren, dass die Regelungen der Charta über den Sicherheitsrat das Kräfteverhältnis von 1945 und die Weltlage nach dem Sieg über den Faschismus widerspiegeln- und die Reform des Sicherheitsrats aus gutem Grund ein Dauerthema in Politik und Wissenschaft, in der Uno ein Thema »open end« ist. Ein Ergebnis ist nicht in Sicht. Man sollte den Sicherheitsrat und die geltenden Regeln über ihn, so wie sie sind, akzeptieren - ohne das Projekt einer Reform in den Papierkorb zu werfen,

Wenn es den Club der 20 ohne jegliche völkerrechtliche Basis gibt, warum nicht auch einen Club der 5 mit den Charta-Bestimmungen über den Sicherheitsrat als völkerrechtlichem Hintergrund? Und Deutschland soll fehlen? Es fehlen auch Japan, Indien, Brasilien, Spanien usw.. Deutschland soll freiwillig auf die Mitgliedschaft im Club der 5 und damit auf Rechte verzichten, die es ohnehin nicht hat und auf völkerrechtlich zulässigen Wegen nicht erhalten wird. Ohne Zusammenwirken der 5 Ständigen wird es keinen wirksamen Sicherheitsrat geben. Aber ein solches Organ wird für die Sicherung des Friedens und der zivilisierten Fortexistenz der Menschheit dringend gebraucht.

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