Literatur, Pop und Wahnsinn
Zwei neue Bände machen die Texte und Fragmente von Wolfgang Welt wieder zugänglich
Als Wolfgang Welt im Juni 2016 im Alter von 63 Jahren starb bekam er mehr Aufmerksamkeit als zu Lebzeiten. Er galt als Pionier der bundesdeutsches Popliteratur, der dann irgendwie vergessen wurde und seit den 80er Jahren als Nachtportier am Bochumer Schauspielhaus arbeitete.
Nach seinem Tod gab es unzählige Nachrufe, einstige Weggefährten versammelten sich zu einer Lesung, bald darauf gab es die Publikation eines Romanfragments, noch später eine Ausstellung und auch eine lange Nacht mit seinen Texten im Deutschlandfunk. Und immer wieder wurde in kleinen Runden der erste Satz aus seinem 1986 erschienenen Roman »Peggy Sue« zitiert, der von manchen zum besten ersten Satz erkoren wurde, mit dem ein deutschsprachiger Roman beginnen könne.
Diese Aufmerksamkeit, das vielfache Lob, hätte Welt sicherlich gefallen, der immer zu wissen schien, warum ihn die »bürgerlichen Medien« ignorierten - er sei für die Verlage zu links oder eben doch nur ein Taschenbuch bei Suhrkamp wert. Als er sukzessive mehr anerkannt wurde, hielt er mit seiner Selbsteinschätzung erst recht nicht mehr hinter dem Berg: »Jamal Tuschick («Junge Welt») verglich mich schließlich mit James Joyces«, schrieb Welt in »Der Ulysses in mir«, jetzt nachzulesen in dem Band »Die Pannschüppe und andere Geschichten und Literaturkritiken«, der zusammen mit »Kein Schlaf bis Hammersmith und weitere Musiktexte« im Verlag Andreas Reiffer erschienen ist. Die beiden Titel sind der Nachschlag zu dem 2012 im Klartext-Verlag veröffentlichten und längst vergriffenen Sammelband »Ich schreib mich verrückt«. Auch der wurde schon von Martin Willems herausgegeben.
Nun sind Welts Musik-, Literatur- und Theaterkritiken sowie Reportagen, Konzertberichte und Geschichten wieder zugänglich - geringfügig bearbeitet und - viel wichtiger - um neue Funde und nach 2012 Veröffentlichtes ergänzt. Dass sie in gleich zwei handliche und stimmig gestaltete - sowie umfassend bebilderte - Bände aufgeteilt wurden, ermöglicht es Leser*innen, Welts unterschiedliche Schaffensphasen besser zu begreifen und zwischen Musik und Literatur zu wählen - auch wenn die Texte in den Bänden oft wie in einem Dialog miteinander zu stehen scheinen.
Beide Bücher beginnen mit Texten aus dem Jahr 1979. Während er die meisten Musikkritiken bis 1983 verfasste, enthält »Die Pannschüppe« zahlreiche Geschichten, die Welt bis zu seinem Tod geschrieben hat, darunter auch das titelgebende Romanfragment. In dem einen Band ist also der großmäulige, launige Szene-Schreiber (»Ich sah mich selbst als Star«), der für das Bochumer Stadtmagazin »Marabo« sowie für »Sounds« und »Musikexpress« arbeitete, zu bestaunen. In dem anderen der zunächst ebenfalls selbstbewusste Jungschriftsteller (»the next big thing«), der nach einer psychischen Erkrankung Wachmann wurde, üble Medikamente nehmen musste, und trotzdem weiter schrieb. Jeder Text - ob journalistisch oder literarisch - scheint ein Puzzleteil in Wolfgang Welts einzigartigem, autobiografischem Erzählprojekt zu sein, das direkt, radikal offen, immer ziemlich lässig, irgendwann auch melancholisch daherkommt. Dazu gehören bereits die berühmten Verrisse zu Grönemeyer und Westernhagen, und natürlich zu Heinz-Rudolf Kunze, den er gleich zu Beginn von dessen Karriere als »Null«, »Streber« und »singender Erhard Eppler« bezeichnete. Diese Texte zeigen, dass Kritik an deutschsprachiger Pop-Musik nicht immer theoretisch überhöht werden muss, wenn man die Musik schlecht findet. Doch nicht nur die genannten Künstler werden runter geschrieben. Arbeitsweisen von Plattenfirmen, Marketingmethoden, das Tourgehabe von Motörhead oder Peter Rüchels Rockpalast werden ebenfalls kritisiert.
Aber Welt konnte natürlich auch loben und ausgewogen sein, denn sein Fachwissen war enorm - ob er nun über deutsche »Schlagermädchen« sinniert oder Bruce Springsteen zwar als das »Rockereignis des Jahres« vorstellte, aber nicht um dessen Musik verklärend zu preisen, sondern um sie umsichtig einzuordnen. In all diesen steht stets das Welt’sche Ich im Vordergrund, das schrecklich amüsante Stories lieferte, wie die über ein verpasstes Treffen mit Lou Reed in Amsterdam oder die Beschreibung einer Tour mit Motörhead. Es sind Texte mit Sogwirkung, was in dem Band »Die Pannschüppe« noch spürbarer wird, wenn in den literarischen Arbeiten Bewusstseinsstrom, Protokollhaftes und automatic writing (unbewusstes Schreiben) ineinander fließen. Doch »zunehmend wird Welts Blick melancholischer«, schreibt Herausgeber Martin Willems, »bisweilen gewinnt man den Eindruck, er müsse seine Umgebung archivieren, sich ihrer immer wieder versichern«. Das wird im titelgebenden Romanfragment deutlich.
Welts Anspruch war es, sein ganzes Leben aufzuschreiben und sogar eine »kollektive Autobiografie über die Wilhelmshöhe«, der ehemaligen Bergarbeitersiedlung am Rande Bochums, in der er sein ganzes Leben lang wohnte, zu entwickeln. Drunter ging’s nicht. Dieses Ziel hat er immer verfolgt und zum Glück Texte geschaffen, in denen Erlebtes und Alltagsbeobachtungen perfekt ineinanderfließen wie in »Einmal Tchibo und zurück«. Seine Texte sind daher nicht nur Vehikel einer individuellen Entwicklung und Erfahrung, sondern auch die einer Region zwischen Arbeit, Pop und Wahnsinn. Mission erfüllt. Eine seiner letzten Mitteilungen lautete: »Nicht wegschmeißen«.
Wolfgang Welt: Kein Schlaf bis Hammersmith und andere Musiktexte. Verlag Andreas Reiffer, Hrsg. v. Martin Willems, 368 S., br., 20 €;
Wolfgang Welt: Die Pannschüppe und andere Geschichten und Literaturkritiken. Verlag Andreas Reiffer, Hrsg. v, Martin Willems, 400 S. , br., 20 €.
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