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Omnipotenz und Machtlosigkeit
Über die Symbiose von Neoliberalismus und der neuen autoritären Rechten
Donald Trump, Viktor Orbán, Recep Tayyip Erdoğan, Narendra Modi, Rodrigo Duterte - und in gewisser Hinsicht auch Xi Jinping: Der neue, globale kapitalistische Autoritarismus ist eines der größten Themen unserer Zeit. Und auch wo die Transformation (noch) nicht vollzogen ist, erstarken nationalistisch-autoritäre Bewegungen, nicht zuletzt hierzulande. Bei allen lokalen Unterschieden verlangen die Parallelen und die Gleichzeitigkeit dieser Entwicklung globale Erklärungen. So ist es nicht verwunderlich, dass sich der Blick dabei schnell auf die weltweit dominanteste politische Ideologie richtet, den Neoliberalismus.
Die heute hegemoniale Form des Neoliberalismus - zurückzuführen auf Milton Friedmans Ökonomieschule der »Chicago Boys«, vorangetrieben von Ronald Reagan und Margaret Thatcher und institutionalisiert in supranationalen Agenden und Organisationen wie dem Washington-Konsens, dem IWF und der Weltbank - ist ein politisches Programm, das die Regelung alles Sozialen durch Märkte anstrebt. Wie Pierre Dardot und Christian Laval in ihrem Buch »Neverending Nightmare« herausarbeiten, ist der neoliberale Staat dabei alles andere als »schwach«. Kommt ihm doch die Rolle zu, diese Märkte umfassend durchzusetzen und störende Institutionen abzuschaffen - selbst wenn es sich um eigene Instrumente handelt. Ikonisch ist der Lehrsatz Margaret Thatchers: »Es gibt keine Gesellschaft als solches, nur Individuen und ihre Familien.«
Die meisten Versuche, den Zusammenhang von Neoliberalismus und Autoritarismus zu ergründen, konzentrieren sich darauf, wie autoritäre Regime einerseits neoliberale Politik zu ihrem Vorteil nutzen oder wie andersherum neoliberal-kapitalistische Eliten autoritäre Regime einspannen. Jedoch kann der Fokus auf den Neoliberalismus als Weltanschauung auch helfen, eine Leerstelle in der Autoritarismusforschung zu füllen: Warum gibt es autoritäre Massenbewegungen, die enthusiastisch gegen ihre eigenen Interessen handeln - und dafür sogar Repressionen in Kauf nehmen?
Wahlweise wird dieses Verhalten mit »Hegemonie« erklärt oder mit mangelnder Bildung sowie politischer Frustration der »Abgehängten«. Während der erste Ansatz eher beschreibt als erklärt, halten die letzteren Hypothesen empirisch nicht stand. Die Unterstützung autoritärer Bewegungen kommt in den meisten Fällen weder aus den ärmsten noch bildungsfernsten Schichten.
Um das Phänomen wirklich zu verstehen, muss das Konzept des »Interesses« verkompliziert werden. Menschen haben komplexe existenzielle Bedürfnisse, die sich auch um Sinnhaftigkeit und Subjektbildung drehen. Gesellschaftserzählungen wie die des Neoliberalismus erfüllen dabei wichtige psychologische Funktionen, indem sie Verhältnisse von Mensch zu Mensch oder von Mensch zu Natur auf eine bestimmte Weise beschreiben. Solche Beschreibungen können bestehende kollektive psychologische Mechanismen ansprechen und deshalb erfolgreich sein oder aber auch ganz neue kollektive psychologische Mechanismen fördern, indem manche Charakterstrukturen belohnt, andere marginalisiert werden.
Die ideologische Konvergenz von Neoliberalismus und Autoritarismus durchzieht auch das »Manifest« des norwegischen rechtsradikalen Massenmörders Anders Breivik, das ein Schlüsseldokument der neuesten Rechten ist. Breivik zitiert nicht Hitler oder Mussolini, sondern neben Friedman oft Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises. Dies überrascht nur vordergründig. Nicht nur, weil etwa Mises Mitte der 1920er den Faschismus ausdrücklich begrüßte, sondern auch in anderer Hinsicht: Als Gesellschaftserzählung fördert der Neoliberalismus genau die Charakterstrukturen, die schon Erich Fromm für die Massenunterstützung des deutschen Faschismus herausarbeitet. Autoritäre Ideologien wirken als subjektive Ausflucht aus Gefühlen von Unsicherheit und den Ambivalenzen, die das unübersichtliche Leben in einer komplexen Gesellschaft mit sich bringt. Laut Fromm wechseln sich dabei imaginierte Zustände von Omnipotenz und totaler Machtlosigkeit ab. Im subjektiven Erleben der Omnipotenz werden alle abhängigen und schwachen Teile und Existenzrisiken verleugnet, um handlungs- und entscheidungsfähig zu werden. Das korrespondierende Machtlosigkeitsgefühl erlaubt derweil, die Einbindung von Erfahrungen, die jener Omnipotenz offensichtlich widersprechen.
Da der Neoliberalismus die Solidargesellschaft erodiert, müssen zunehmend isolierte Menschen große Risiken meistern oder ausblenden. Da helfen autoritäre Bewältigungsstrategien, für die es in der neoliberalen Gesellschaftserzählung viel Material gibt. Für den Omnipotenzzustand bietet sie die Vorstellung des Individuums, das von zwischenmenschlichen oder natürlichen Abhängigkeiten losgelöst ist - und dabei im Sinne des kategorischen Imperativs moralisch handelt. Den Machtlosigkeitszustand bedient die Vorstellung eines gottgleichen »Marktes«. Jenseits menschlichen Begreifens stiftet dieser Sinn, indem er die Schicksale der atomisierten Einzelnen in ein funktionales Ganzes verwebt. Auch entziehen sich die vermeintlichen »Naturgesetze« des Marktes menschlicher Gestaltung. So bleibt den Einzelnen nur, sich marktkonform zu verhalten. Sowohl das Anpassen an »die Märkte« als auch das Aufrechterhalten der Selbstidee des rationalen Individuums benötigt ein rigides psychisches System der Selbstdisziplinierung - ein Über-Ich, das die renitenten, hedonistischen, schwachen oder weichen Teile des Selbst in Schach hält.
Dieser Zustand lässt sich leichter erreichen und ertragen, wenn die auf das Selbst gerichtete Aggression verschoben wird. Andere werden zum Symbol der Weichheit, die man in sich selbst bekämpft: So bietet der Neoliberalismus eine perfekte Rationalisierung für den irrationalen Hass auf Schwäche und Schwache. Da er soziale Strukturen ausblendet, führt der Neoliberalismus Ungleichheiten immer auf individuelles Verhalten zurück. So tragen Einzelne selbst die »Schuld« an ihrer Not - und werden dafür auch noch gehasst: Arbeitslose, Übergewichtige, »Integrationsunwillige« oder queere Menschen, die sich über »Naturregeln« hinwegsetzen. Schikanen gegen »Randgruppen« sollen diese angeblich zu produktiven Gesellschaftsmitgliedern machen. Sie befriedigen aber tatsächlich eher Gewaltbedürfnisse, die aus den Zwängen jener autoaggressiven Selbstdisziplinierung entstehen.
Bei den Giga-Reichen funktioniert es spiegelbildlich: Der Marktmythos führt auch deren Position allein auf sie selbst zurück. Da etwa die Silicon-Valley-Mogule so astronomisch vermögend sind, müssen sie übermenschliche individuelle Fähigkeiten haben! Dass es vom Personenkult um das halbgottartige »Wirtschaftsgenie« zum politischen Führerkult des Autoritarismus nicht weit ist, lässt sich empirisch beobachten - nicht nur im unerschütterlichen Vertrauen in Sachen politische Kompetenz, das noch jetzt so viele einem Donald Trump entgegenbringen. Sondern etwa auch in einem für westliche Begriffe bizarren Sachverhalt: dem Erfolg von »Mein Kampf« in Asien. In Indien wie China ist das Buch ein Bestseller - und wird als Management- oder Selbstoptimierungsliteratur gelesen. In Läden liegt es zwischen Biografien von Barack Obama, Angela Merkel oder Mark Zuckerberg. Ich habe in beiden Ländern viele Gespräche erlebt, in denen die faschistischen Gräuel als kleinere Verfehlungen auf dem Weg zu Größe und Wohlstand abgetan wurden. Hitler gilt als Vorbild in Sachen persönlicher Beharrlichkeit beim Verfolgen seiner Träume.
Vor diesem Hintergrund sind die neuen Führerkulte verständlicher, die ja stets eine klassisch-autoritäre Verteidigung »kultureller Reinheit« mit Bildern von aufsteigenden Underdogs und Managementqualitäten vermischen. Die Selbstinszenierung des indischen Premiers Narendra Modi zeigt das besonders deutlich: Mal ist er der Sanskrit-Gelehrte, bekleidet im Stil brahmanischer Eliten, mal der kreative Umwälzer, der mit ebendiesen etablierten Eliten bricht und als Aufsteiger soziale Mobilität verspricht.
Rechts-autoritäre Bewegungen beinhalten fast immer Vernichtungsfantasien. Auch hier ist die neoliberale Erzählung anschlussfähig. Gehorchen Verteilungsfragen lediglich den unveränderbaren Naturgesetzen des »Marktes«, stehen Umverteilung oder gar Strukturveränderungen außerhalb jedes sinnvollen oder möglichen Handelns. Wenn der gottgleiche Markt Ressourcen grundsätzlich optimal lokalisiert, produziert und verteilt, aber dennoch Umweltprobleme, Armut und Mangelernährung auftreten, muss es zu viele Menschen geben. In rechten Internetforen ist daher die Rede von der »Überbevölkerung« omnipräsent - samt zugehörigen Vernichtungsfantasien. Von Natur aus arme Menschen, die sich irrational verhalten, indem sie immer mehr Kinder bekommen, die sie sich gar nicht »leisten« können: Was ist in diesem Weltbild die »Lösung«?
Es ist wichtig zu verstehen, dass die autoritären Führer und Bewegungen unterschwellige psychosoziale Bedürfnisse ansprechen, die auch durch die neoliberale Gesellschaftserzählung gefüttert werden. Der neoliberale Status quo, den viele gegen den Autoritarismus verteidigen wollen, gehört selbst zu dessen Voraussetzungen. Geführt werden muss der Kampf gegen Autoritarismus nicht nur auf der Ebene der Fakten oder der materiellen Konflikte, sondern auch auf psychologischem Terrain. Autoritäre Bedürfnisse werden gesellschaftlich produziert, müssen aber anerkannt werden, um mit der Transformation zu beginnen. Das Antidot gegen autoritäre Weltbilder ist gelebte Solidarität. Ebenso wichtig wie klassische Überzeugungsarbeit und Organisation sind dabei Räume für alternative Selbsterfahrung. Denn darin kann die eigene Verstrickung in das zerstörerische kapitalistischen System nicht nur auf eine aushaltbare Weise erkannt, sondern infolgedessen dann auch auch verändert werden.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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