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- Wohnungsnot in Berlin
Drei Quadratmeter sind keine Bleibe
Über Wohnboxen als Strategie gegen Wohnungslosigkeit wird gestritten
Seit einem Monat hat Bernd seine eigene Wohnung in Köln. Sogar mit Balkon. Das freut ihn besonders. Fünf Jahre hat er in Berlin auf der Straße gelebt, nachdem ihn seine damalige Partnerin vor die Tür gesetzt hatte. Dass er jetzt die Heizung aufdrehen kann, wenn es draußen kalt wird, daran hat auch eine kleine Wohnbox ihren Anteil, in der er sein letztes Jahr auf der Straße verbracht hat. »Ohne die wäre es für mich sehr schwer geworden, von der Straße runter zu kommen«, erzählt der 67-Jährige rückblickend.
Tiny Houses werden diese Wohnboxen auch genannt, die obdachlosen Menschen auf minimalem Raum ein Dach über dem Kopf bieten sollen. Für Bernd war sein Tiny House ein Zwischenschritt zwischen Obdachlosigkeit und eigener Wohnung. Kritiker hingegen sehen solche Minihäuser als Rückschritt hinter historisch erkämpfte Wohnstandards.
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Ob unter dem Namen Lesshomes, Molo oder Schlichthäuser, immer wieder gibt es Initiativen, die Tiny Houses für Obdachlose in Berlin bauen. Am bekanntesten ist der von Sven Lüdecke gegründete Verein Little Home, von dem aktuell gut 50 Wohnboxen in der Hauptstadt stehen. Die aus Holz gefertigten Wohnboxen sind 3,2 Quadratmeter klein. Im Inneren befinden sich eine Matratze, eine Campingtoilette und eine Arbeitsfläche. Das ist nicht viel, räumt Lüdecke ein. Doch sich nicht jeden Tag fragen zu müssen, wo man schlafe und wo das Gepäck versteckt werden kann, verändere einiges. »Wer in eins der Little Homes zieht, braucht erst einmal eine Woche, um zur Ruhe zu kommen. Aber dann rufen sie uns an und fragen nach Hilfe bei der Suche nach einer Wohnung.«
Auch Bernd hat in einer Wohnbox des Vereins gelebt. Zusammen mit Little Home hat er es geschafft, seine Rente zu beantragen und sich um eine Wohnung zu kümmern. Vorher sei das undenkbar gewesen, erzählt er. Für Vereinsgründer Lüdecke ist Bernds Geschichte kein einmaliger Erfolg. Über 30 ehemals Obdachlose schafften ihm zufolge letztes Jahr deutschlandweit über den Umweg Little Home den Schritt zur eigenen Wohnung. »Die Wohnboxen sind kein Allheilmittel«, sagt Sabine Bösing von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Dass sie eine Notlösung sein können, will sie nicht bestreiten. Aber sie seien keine geeignete Antwort, um die Wohnungslosigkeit zu beenden. »Statt Tiny Houses bedarf es eines diskriminierungsfreien Zugangs zu menschenwürdigen ordnungsrechtlichen Unterkünften und nicht zuletzt einen verstärkten sozialen Wohnungsbau in den Kommunen.« In Deutschland sind die Kommunen dazu verpflichtet, unfreiwillig obdachlos gewordene Personen unterzubringen. Für diese ordnungsrechtlichen Unterkünfte, in denen in Berlin etwa 34 000 Menschen leben, bestehen gerichtlich bestätigte Mindeststandards. »Mit der Etablierung von Tiny Houses geht die Gefahr einher, dass solche historisch erkämpften Wohnstandards dauerhaft abgesenkt werden«, meint Bösing. Überwundene Wohnverhältnisse aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts würden wieder akzeptiert werden und eine Drohkulisse für alle vom Wohnungsverlust Bedrohte schaffen. »Dann würden auch nicht mehr nur soziale Initiativen Tiny Houses bauen, sondern profitorientierte Unternehmen diesen Substandard ausnutzen«, befürchtet sie.
Sven Lüdecke kann die Kritik teilweise verstehen. Die Frage, ob er lieber 500 statt 50 Little Homes in Berlin stehen hätte, verneint er. »Ich habe einen riesigen Schiss davor, dass unser Projekt zu so etwas wie der Tafel wird.« Zu einer ehemals klein gestarteten Initiative, auf die die Politik heute mit dem Finger zeige, anstatt ihre Arbeit zu machen, wie er sagt. Little Home richte sich an zirka fünf Prozent der Obdachlosen. Jene ohne Drogen- oder Alkoholproblem, die den Willen haben, die Straße zu verlassen, aber durch andere Hilfsangebote nicht erreicht werden. Für den Großteil müssten sich allerdings die Bedingungen in den Unterkünften verbessern. Vor allem sollen sich nicht länger mehrere Menschen einen Raum teilen müssen. Das sei entscheidend, denkt er.
Während Lüdecke die Wohnboxen vor allem als Zwischenstation verstanden wissen will, glaubt Jörg Richert, Vorstand bei der Sozialgenossenschaft Karuna, dass Tiny Houses für manche auch eine geeignete Dauerlösung sein können. Es gebe genug Obdachlose, die nicht wieder in eine Wohnung ziehen wollen, weil sie Angst haben, erneut zu scheitern. Die müsse man ernst nehmen. »Mit Tiny Houses würde sich deren Lebenssituation deutlich verbessern«, meint er. Zusammen mit der Berliner Universität der Künste entwickelte Karuna ein Modell für ein Tiny House, das größer und komfortabler ist als die Wohnboxen.
Während die Baukosten bei den Little Homes bei 1000 Euro liegen, rangiert ein Tiny House, wie Richert es sich vorstellt, in der Preisklasse eines Neuwagens. Im US-amerikanischen Seattle hat er sich vor anderthalb Jahren solche Tiny Houses mit einem Materialwert von 35 000 US-Dollar angeschaut. In Berlin hofft er noch dieses Jahr ein erstes solches Tiny House an den Start zu bringen. Finanziert werden sollen solche Häuser durch eine kleine Miete oder die Tagessätze, die bisher für die ordnungsrechtliche Unterbringung gezahlt werden. Perspektivisch könne man damit mehreren tausend Obdachlosen in Berlin helfen, so Richerts Vision.
Die Kritik an solchen Dimensionen ist, dass sie zu Elendsvierteln führen. Denn Bewohner von Tiny Houses sind darauf angewiesen, dass der Eigentümer des Grundstücks sie duldet. Den Unterschied zwischen Duldung und Mietrecht konnte man beispielsweise 2019 auf dem Kreuzberger Mariannenplatz sehen, als zwei Tiny Houses im Vorfeld des »Myfests« abgerissen wurden. Auf attraktiven Plätzen in der Stadt unerwünscht, konzentrieren sich die Bewohner dann auf die wenigen Orte, von denen sie nicht vertrieben werden, so die Befürchtung der Kritiker. Karuna-Vorstand Richert hält dem entgegen, dass es Plätze in der Stadt braucht, die zu einer Begegnungszone für Nachbarn werden und auf denen jeweils zwei bis drei Tiny Houses mit gesichertem Status stehen könnten.
Auch die Senatsverwaltung für Soziales hatte ursprünglich geplant, in der Stadt Tiny Houses für Obdachlose zu errichten, das Vorhaben während der Pandemie jedoch auf Eis gelegt. »Es sollten sogenannte Safe Places für obdachlose Menschen in der Stadt errichtet werden, in denen sie selbstbestimmt in Tiny Houses leben können und nicht vertrieben werden«, so Sprecher Stefan Strauss auf nd-Anfrage. »Allerdings lässt sich dieses Projekt wegen der Corona-Pandemie derzeit nicht realisieren.« Um Obdachlose dennoch von der Straße zu holen, setze man weiterhin auf das Projekt »Housing First«. Das dreijährige Pilotprojekt, bei dem wohnungslose Menschen ohne Vorbedingungen wie einem positiven Schufa-Eintrag eine Wohnung bekommen, läuft noch bis Oktober 2021.
Stefan Schneider, Koordinator der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen, kann bei allem Lob, das er sonst für Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) hat, nicht verstehen, warum sie Tiny Houses unterstützt. »Es ist die Arroganz der Wohnenden, zu bestimmen, was Wohnungslosen zumutbar ist.« Man dürfe sich nicht mit so einem Substandard zufrieden geben. Die Lösung könne nur die mietvertraglich gesicherte Wohnung sein. Dafür gelte es zu kämpfen. Schneider rät, wer über Tiny Houses für die Unterbringung von Obdachlosen nachdenkt, sollte sich fragen: Würde ich meine Wohnung dagegen eintauschen?
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