15 Kilometer von der Akzeptanz entfernt

Regelungen und Diskussion zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit in Corona-Hotspots sind nicht dazu angetan, für Zustimmung in der Bevölkerung zu sorgen

In der Coronakrise ist vieles relativ. Die Beschlüsse der Bund-Länder-Beratungen zum Beispiel. Die sind das eine - was die Länder bei der Umsetzung daraus machen, das andere. So gilt zwar seit Montag bundesweit die Verlängerung des harten Lockdowns. Darüber hinaus herrscht bei der konkreten Ausgestaltung der verschärften Regeln aber - freundlich ausgedrückt - föderale Vielfalt. Bei der 15-Kilometer-Regel etwa.

Die Grundidee: Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz (Neuinfektionen innerhalb von sieben Tagen pro 100 000 Einwohner) von 200 wird der Bewegungsradius für die Bevölkerung des betroffenen Kreises oder der betroffenen kreisfreien Stadt auf 15 Kilometer rund um den Wohnort beschränkt. Darüber hinaus darf sich nur bewegen, wer einen triftigen Grund hat. Dazu zählen Arztbesuche, der Weg zur Arbeit, Einkäufe. Das Ziel: Kontakte einschränken und insbesondere Tagestourismus unterbinden.

Was nun aber für die Bürger und Bürgerinnen genau gilt und wie weit die Regelungen in den jeweiligen Bundesländern von der Grundidee abweichen, bedarf der eingehenden Selbstinformation. In Baden-Württemberg zum Beispiel gibt es derzeit keine 15-Kilometer-Regel und ist vorerst auch nicht geplant. Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen überlassen es den Kommunen, über die Regel zu befinden. In Niedersachsen soll dann aber die Wohnadresse und nicht der Wohnort als Ausgangspunkt des 15-Kilometer-Radius gelten. In Thüringen ist die Regel eine Empfehlung, nur für den Landkreis Hildburghausen ist sie bisher verpflichtend. In Rheinland-Pfalz soll die Maßnahme bei Bedarf eng mit den Kommunen abgesprochen werden und in Schleswig-Holstein soll es keinen Automatismus für sie geben.

Zwar wurde in dieser Krise von vielen Seiten immer wieder das Argument vorgebracht, dass die Akzeptanz der Anti-Corona-Maßnahmen und deren Einhalten durch die Bevölkerung auch von einem möglichst einheitlichen Vorgehen abhänge. Doch auch im zweiten Krisenjahr ist man davon offensichtlich kilometerweit (in etwa 15) entfernt. Dabei schränkt die Regel Betroffene ohnehin in unterschiedlichem Maße ein - abhängig von der Wohnsituation. Während die Lebenswelt von (Groß-)Städtern immerhin ihre Kommune plus 15 Kilometer drum herum umfasst, bleibt für viele auf dem Land wohl nur ein Dorf plus 15 Kilometer (fast) nichts.

Hinzu kommt, dass auch der Nutzen der Regel in Zweifel gezogen wird. »Eine 15-Kilometer-Grenze bringt infektiologisch gesehen zunächst keinen Vorteil«, so Ulrike Protzer, Direktorin des Instituts für Virologie am Helmholtz Zentrum München und Leiterin des Instituts für Virologie der Technischen Universität München. Natürlich erschreckten einen die Bilder von überfüllten Ausflugszielen zunächst. »Aber wenn man die Ansammlung von Menschen vermeiden will, ist es vielleicht doch effizienter, für einzelne Orte gezielt Zugangsbeschränkungen einzuführen, zum Beispiel wenn die Parkplätze sich füllen die Zugangsstraßen zu sperren, als generell den Bewegungsradius einzuschränken«, so Protzer. Dies berge die Gefahr, dass sich in den Ballungsräumen noch mehr Menschen auf engem Raum bewegen müssten, und die innerstädtischen Parks und Grünflächen dann erst recht überfüllt seien. »Und da trifft man dann auch schnell einmal Menschen, die man kennt, und vergisst dabei vielleicht die notwendigen Abstandsregeln.«

Und auch wenn man von einer prinzipiellen Wirksamkeit der 15-Kilometer-Regel ausgeht, bleibt die Frage einer effektiven Durchsetzung offen. Denn flächendeckend zu kontrollieren ist die Einhaltung durch die Behörden, die seit geraumer Zeit (auch) coronabedingt an ihre Belastungsgrenzen stoßen, ohnehin nicht.

Wenn die analogen Ressourcen nicht ausreichen, warum nicht auf digitale zurückgreifen, dachte sich wohl Uwe Brandl, Präsident des Bayerischen Gemeindetags und Vizepräsident des Deutschen Städte- und Gemeindebundes: »Wir könnten heute Bewegungsprofile aus den Handys auslesen und auf diese Weise sehr treffsicher feststellen, wo sich die Menschen aufhalten. Wir müssen uns halt jetzt entscheiden, was wichtiger ist, der Gesundheitsschutz oder der Datenschutz«, erklärte er am Montagmorgen im Bayerischen Rundfunk. »Ich glaube, wir müssen einfach mehr Mut haben dazu, dass man die digitalen Möglichkeiten nutzt«, so Brandl weiter. Auch die Polizei habe zur Kontrolle nur begrenzte Ressourcen. »Also wird es nur zu Stichprobenkontrollen kommen. (...) Und ich glaube halt, dass jede Regelung nur so gut ist, wie sie exekutiert und überwacht werden kann.«

Für seine Überlegungen erntete Brandl im Freistaat umgehend harsche Kritik. Für Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag, handelt es sich um eine »Schnapsidee«, die Verunsicherung und Misstrauen in der Bevölkerung befeuere. Das Erheben pauschaler Bewegungsprofile der Bürger sei in einer freiheitlichen Demokratie nicht vorstellbar und verstoße gegen das Grundgesetz. FDP-Fraktionsvorsitzender Martin Hagen bezeichnete den Vorschlag als »Tabubruch«. Deutschland dürfe kein Überwachungsstaat werden, der seinen Bürgern digitale Fußfesseln anlege. Und SPD-Fraktionsvorsitzender Horst Arnold erklärte: »Das ist ohne jegliche rechtliche Basis - und absolut unverhältnismäßig. Nicht akzeptabel und eine Offenbarung der Hilflosigkeit und Unkenntnis.«

Ebenso lehnt der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber eine Überwachung der 15-Kilometer-Regel mittels Handydaten oder auch über die Corona-Warn-App ab. Kelber zog einen Vergleich mit der Corona-Warn-App. Mit Bezug auf letztere erklärte er gegenüber der »Augsburger Allgemeinen«: »Die Akzeptanz würde schlagartig sinken und man würde Ressourcen und Zeit vergeuden.« Mit Agenturen

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.