Thilo Sarrazin oder die Biologisierung des Sozialen
Rassismus ist keine schlechte persönliche Eigenschaft und auch keine Frage der Moral, sondern Teil eines bürgerlich-hegemonialen Herrschaftsdiskurses im Neoliberalismus, zu dem auch systematische Abwertung von Armen gehört
An kaum einer Figur wird der Zusammenhang von Rassismus und kapitalistischer Herrschaftsideologie so deutlich wie an Thilo Sarrazin. Dieser wurde nach einigen gescheiterten Versuchen in diesem Jahr aus der SPD ausgeschlossen, was eine erneute Diskussion zu seiner Person verursachte. Angeführt wird als Begründung sein antimuslimischer Rassismus, der mit den Grundwerten der Partei nicht übereinstimme. Dabei werden seine Tätigkeiten als Finanzsenator und Bundesbank-Vorstand oft kontrastiert mit seinen rassistischen Thesen, was sich nicht zuletzt auch an den Rücktrittsforderungen von liberaler Seite im Kontext der Debatte um sein Buch »Deutschland schafft sich ab«, beobachten lässt. Dabei stehen seine Tätigkeiten als Ökonom und seine rassistischen gesellschaftspolitischen Thesen keineswegs in einem Widerspruch. Im Gegenteil, sie ergänzen sich und hängen in der kapitalistischen Klassengesellschaft ihrem Wesen nach zusammen. Kapitalismus ist nicht nur eine Produktionsweise im engeren Sinne, sondern er ist ein Ensemble von gesellschaftlichen Beziehungen, Institutionen und Ideologien, die ihn produzieren und reproduzieren. Nicht umsonst trägt das marxsche Hauptwerk »Das Kapital« den Untertitel »Kritik der politischen Ökonomie«. Marx analysierte darin nicht nur, wie der Kapitalismus Reichtum durch Ausbeutung produziert, sondern auch die Verklärung eben dieser Verhältnisse durch die Wissenschaft. Die sogenannten Wirtschaftswissenschaften produzieren die Ideologie, die die kapitalistische Produktionsweise zu ihrer Reproduktion braucht und dazu gehören auch Sozialchauvinismus, also die Abwertung von Armen, und Rassismus.
Eine gängige Annahme ist, dass Rassismus ausschließlich ein falsches Vorurteil über andere Menschen ist. Das wird nirgends so deutlich wie in der Debatte um Sarrazin und seine Thesen zur gescheiterten Integration. Mit seinen Thesen in »Lettre International« und seinem folgenden Buch »Deutschland schafft sich ab« vertritt er die These, Migration würde Deutschland schaden, da Migrant:innen qua genetischer Andersartigkeit zur Integration in die deutsche Gesellschaft nicht in der Lage seien. Die unterschiedlichen genetischen Ausstattungen setzt er mit niedriger oder höherer Intelligenz gleich und behauptet zum Beispiel in der »Welt am Sonntag« auch die Existenz eines angeblichen Juden-Gens.
In der darauffolgenden Debatte wird sein Rassismus vor allem als moralisches oder wissenschaftliches Problem behandelt. Seine Thesen faktenbasiert zu widerlegen kommt der Wurzel seines Rassismus jedoch nur bedingt nahe: Wenn er von Migrant:innen mit niedriger Intelligenz spricht, ist es für ihn relativ einfach, auf die gesellschaftliche Realität zu verweisen, in der Migrant:innen in Deutschland, aber auch Menschen des globalen Südens unqualifizierte Tätigkeiten ausüben, während Deutsche zum Beispiel in wissenschaftlichen und politischen Tätigkeiten überrepräsentiert sind. Dass diese Hierarchisierung der Arbeit vor allem ökonomisch begründet ist und eher mit der Verwertbarkeit von Armut zu tun hat, ist dabei weniger offensichtlich. Soziale Verhältnisse werden zu natürlichen erklärt, die materiellen Bedingungen des Kapitalismus nicht hinterfragt,
Doch die Rassenforschung in England begann nicht etwa in den Kolonien, sondern an der Arbeiterklasse. Die herrschende Klasse in England wollte nachweisen, wieso die arbeitende Klasse biologisch für unqualifizierte Arbeiten wie Industriearbeit prädestiniert war. Nach der gleichen Methode wurde der Kolonisierung des globalen Südens durch Rassentheorien eine biologische Grundlage verliehen. Durch die Produktion des rassistischen Diskurses sollte eine soziale Welt geschaffen werden, in der eine Gruppe per se als arbeitende Bevölkerung gekennzeichnet werden konnte und die andere als zur Leitung und Organisation der Produktion bestimmt. Rassismus ist damit nicht nur ein Vorurteil, sondern ein soziales Verhältnis zwischen Menschen, die auf unterschiedliche Weise in die gesellschaftliche Produktion eingebunden und hierarchisiert werden. Rassismus als ideologische Legitimation für ein Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis findet sich bereits in Sarrazins Dissertation in den 70er Jahren. Da vertritt er die Annahme, dass die Sklaverei in den Südstaaten den N****sklaven die notwendige Produktivität verschafft habe. Die rassistische Vorstellung der undisziplinierten Sklaven rechtfertigte das brutale Vorgehen und die Gewalt gegen die kolonisierten und versklavten Bevölkerungen des globalen Südens. Kapitalismus braucht Rassismus, um Rechte zu untergraben und Überausbeutung ideologisch zu legitimieren, er ist ein Stabilisator für die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Klassengesellschaft.
Marx bezeichnet den politischen Ökonomen als den Ideologen des Kapitalisten. Bei Gramsci ist es die Figur des organischen Intellektuellen, der Diskurse im Sinne seiner Klasse produziert. Sarrazin kommt diese Rolle zu, denn durch ihn verteidigt eine Klasse, die ihren Reichtum nur durch Ausbeutung gewinnen und behalten kann, ideologisch ihren Herrschaftsanspruch. In diesem Zusammenhang ist es nicht wenig überraschend, dass Sarrazin vom rechtskonservativen Magazin »Cicero« unter die Top 5 der deutschen Intellektuellen gewählt wurde.
Als Ökonom vertrat er das Prinzip des Kapitalismus nicht nur ideologisch, sondern auch praktisch. 1990/91 arbeitete er in der Treuhandanstalt, die die kollektivierten Betriebe der DDR in kapitalistisches Privateigentum überführen sollte. In den 2000ern privatisierte er als Finanzsenator in Berlin zahlreiche Immobilien. In dieser Rolle sorgte er schon damals für Kontroversen, als er außerdem einen Speiseplan für Hartz-IV-Empfänger:innen ausrechnete, um im Kontext der Debatte um Kinderarmut eine Erhöhung des Regelsatzes zu verhindern. Der Regelsatz, der Hartz-IV-Empfänger:innen pro Tag zusteht, liegt bei 4,25 Euro. Ob es also die Sklaverei ist, die durch die Faulheit der Afrikaner:innen notwendig wird, der Hartz-IV-Regelsatz, der mit der nötigen Bildung schon ausreicht, oder Deklassierung von Migrant:innen – Sarrazins Devise bleibt: Armut ist selbstverschuldet und nicht etwa Ergebnis einer Klassengesellschaft, die von der Ausbeutung und Enteignung der Armen lebt.
In der Debatte um Sarrazins Äußerungen wird allerdings weniger skandalisiert, dass er Menschen unterschiedlichen Wert zumisst. Stattdessen erscheint skandalträchtig, dass er sich mit seinem Biologismus in ein Feld begibt, das mittlerweile gesellschaftlich stigmatisiert ist. Rassismus ist schlecht, darauf können sich alle einigen, worin er aber genau besteht, das bleibt weiter umstritten. Der Kapitalismus ist zwar nicht farbenblind, denn er ist auf rassistische Unterscheidung angewiesen; zu viel Ungleichheit könnte Gesellschaften aber so destabilisieren, dass es zu einem Ausschluss von Menschen und damit Arbeitskräften käme. Differenz und Gleichheit müssen sich immer die Waage halten. Deswegen existieren in vielen Unternehmen mittlerweile »Diversity-Konzepte« und das »Handelsblatt« hat sehr vorbildlich vorgerechnet, was ein »Ausländer raus« die deutsche Wirtschaft kosten würde. Dass Migrant:innen in Deutschland nur instrumentell verhandelt werden ist eben auch Produkt einer Gesellschaft, in der Menschen Humankapital sind, das heißt, die Abwertung ist in den Verhältnissen bereits angelegt.
Bafta Sarbo ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet zum Verhältnis von Marxismus und Antirassismus. Sie ist politisch unter anderem aktiv im Vorstand der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und arbeitet dort zu Racial Profiling, Migrationspolitik und Rassismen in Deutschland.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.