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Ein Spielplatz im Armenviertel
Das Programm Convivir wirkt in Guatemala der Ungleichheit der Gesellschaft entgegen
»Nein, auf einer Schaukel habe ich noch nie gesessen«, sagt das achtjährige Mädchen Luisa. Sie wohnt in einer Hütte aus morschen Brettern und Wellblechplatten am Rand eines steilen Abhangs im Norden des Armenviertels La Comunidad. In dem Stadtteil leben über 70 000 Menschen, die meisten in Armut oder extremer Armut. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sich anfühlt zu schaukeln oder zu wippen«, sagt Luisa. »Das kenne ich nur aus dem Fernsehen.«
Die einzige Schaukel in La Comunidad steht auf dem Gelände einer Kirchengemeinde, aber die liegt hinter einem großen Zaun, dessen Tor seit Beginn der Pandemie meist verschlossen ist. Luisa meint: »Gerade jetzt, wo wir seit Monaten fast nie aus unserer Hütte rauskommen, wäre es toll, wenn es einen Ort gäbe, wo wir ab und zu mal springen könnten und lustig spielen.« Aber in Guatemala ist es nicht üblich, dass Spielplätze im öffentlichen Raum für alle frei zugänglich sind.
Vier Jahrzehnte lang gehörte Guatemala zu den Kooperationsländern der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. So lange war Deutschland einer der wichtigsten Geber des Landes, mit einem Fokus auf demokratische Regierungsführung, Bildung und zuletzt Anpassung an den Klimawandel. Seit kurzem aber verfolgt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) eine Politik der Konzentration auf bestimmte Länder. 24 Länder sollen in Zukunft keine direkte Hilfe mehr vom deutschen Staat erhalten. Dazu zählt auch Guatemala.
Die Entscheidung ist umstritten. Das BMZ verfügt derzeit über rund elf Milliarden Euro im Jahr. 85 Partnerländer seien zu viele, argumentiert der Minister Gerd Müller. In Zukunft soll sich die Zusammenarbeit vor alle auf Regierungen konzentrieren, die sich reformwillig zeigen. Dazu zählt die guatemaltekische Regierung schon lange nicht mehr.
Es geht aber nicht nur darum, ob eine Regierung korrupt oder transparent ist. In einigen Zielländern will Deutschland der Europäischen Union das Feld überlassen. So soll ein Durcheinander vieler verschiedener Geber und ihrer zahlreichen Organisationen aufgelöst werden.
In Ländern, in denen staatliche Hilfe wegfällt, dürften deutsche Nichtregierungsorganisationen in Zukunft eine größere Rolle spielen. Deren Vertreterinnen begrüßen, dass Korruption und Menschenrechte stärker in den Fokus rücken sollen. Doch wenn die entwicklungspolitische Zusammenarbeit beendet wird, besteht die Sorge, dass als Konsequenz auch der politische Dialog und die Einflussmöglichkeit demokratischer Kräfte beschränkt werden. Zudem kann der Rückzug dazu führen, dass die Freiräume für Nichtregierungsorganisationen kleiner werden.
Der Politikwandel wird sicher noch zu vielen Diskussionen führen. Im Notfall aber, sichert Minister Müller zu, wird es weiterhin Hilfe geben, auch in Ländern, in denen Deutschland keine langfristigen Entwicklungsprojekte mehr fördert. Dieses Versprechen könnte besonders jetzt an Bedeutung gewinnen, angesichts der Folgen der Corona-Pandemie. bou
Ein paar 100 Meter von Reynas Zuhause entfernt steht die Gesundheitsstation des Stadtteils. »Hier ist die Hygiene in vielen Hütten sehr schlecht«, weiß die Krankenschwester Ludvi Santos. »Manche Familien wohnen direkt neben Abwässern. So kommt es vor allem bei Kindern häufig zu Krankheiten wie Hepatitis A oder Lungenentzündungen.«
Auch Ludvi Santos fände es gut, wenn die Stadtverwaltung den Kindern mehr Angebote machen würde. »Sie haben nirgends die Möglichkeit, auf Klettergerüsten die Muskeln ihres Körpers auszuprobieren oder auch mal ein kleines Abenteuer zu erleben. Für die Gesundheit eines Kindes ist es enorm wichtig, neue Bewegungen kennenzulernen und die motorischen Fähigkeiten zu trainieren.«
In einigen anderen Bezirken von Guatemala-Stadt ist es selbstverständlich, dass Kinder auf Spielplätzen toben. Große Spielgeräte gehören zum Inventar der meisten Privatschulen und abgeschotteten Wohnanlagen. »Diese soziale Ungleichheit wollen wir mit dem Programm Convivir abbauen«, erklärt Irma Rodas, die Direktorin der Abteilung für wirtschaftliche Kooperation der Stadtverwaltung. »In den ärmeren Stadtteilen schaffen wir neue Entwicklungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche und Orte der Begegnung. Dafür sind Kinderspielplätze ideal.«
Seit einem halben Jahrtausend ist die Bevölkerung Guatemalas daran gewohnt, dass fremde Mächte ihr Leben bestimmen. Der Reigen begann mit der Eroberung durch die Spanier, die viele indigene Völker der Region nahezu ausgerottet haben. 400 Jahre später übernahm die US-amerikanische United Fruit Company fast das gesamte Transportwesen des Landes. 1954 diffamierte der Konzern die reformorientierte guatemaltekische Regierung des Präsidenten Jacobo Arbenz als kommunistisch. Die US-amerikanische Außenpolitik unterstützte einen erfolgreichen Putsch. Daraufhin begann eine Epoche mehrerer aufeinanderfolgender und von den USA geförderter Militärdiktaturen. Die Opposition wurde unterdrückt, Gewerkschafter und Anführer der indigenen Bevölkerung ermordet. Während eines 36 Jahre lang andauernden Bürgerkriegs wurden mindestens 200 000 Menschen getötet, Zehntausende sind verschwunden.
Angst vor Gewalt ist weit verbreitet
Heute hat Guatemala-Stadt eine der höchsten Mordraten aller Hauptstädte weltweit. Zwar dokumentieren die Statistiken seit einiger Zeit eine positive Trendwende, aber das Leben vieler Menschen ist weiterhin geprägt von Angst und Misstrauen. »Gerade Väter und Mütter machen sich Sorgen wegen der Kriminalität im öffentlichen Raum«, sagt Irma Rodas. »Auf Spielplätzen haben die oft sehr jungen Eltern die Möglichkeit, sich gegenseitig kennenzulernen, freundschaftlich, ohne Konfrontation. So kann Ausgrenzung überwunden werden.«
Im Dezember 1996 haben Vertreter der Guerillaführung und der Regierung einen Friedensvertrag unterzeichnet. Man einigte sich auf politische und gesellschaftliche Reformen. Doch nur wenige der Abkommen wurden umgesetzt. Gleichzeitig sind mafiöse Strukturen im staatlichen Verwaltungsapparat gewachsen. Wirtschaft und Politik werden mit Geldern aus Drogengeschäften korrumpiert. Das Organisierte Verbrechen unterwandert die Polizei, korrupte Unternehmer bestechen den Zoll, Steuern werden hinterzogen. Heute ist die Gewalt im Land meist nicht mehr politisch motiviert, sondern kriminell.
Öffentlicher Raum ohne Platz für Kinder
Die junge Mutter Estefanie Miranda ist begeistert von dem Spielplatz, den das Programm Convivir in ihrer Nachbarschaft nahe der städtischen Müllhalde ausgestattet hat. »Nirgendwo sonst in dieser Gegend gibt es solche Angebote für Kinder.« Mindestens einmal in der Woche kommt sie hierher, damit ihre beiden Töchter zwischen den Geräten hin und her rennen können. »Für die beiden ist es viel zu langweilig, immer zu Hause eingeschlossen zu sein. Die Straßen sind eng und der Verkehr ist dicht. Ich würde meine Kinder nie alleine auf der Straße spielen lassen. Aber hier auf dem Spielplatz fühlen sie sich frei. Sie finden das Projekt toll.«
Der Name des Programms Convivir steht für »friedliches Zusammenleben und sichere Räume für Jugendliche und Kinder«: Mit neun Millionen Euro wird es vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit unterstützt. Weitere sechs Millionen Euro investiert die Stadtverwaltung von Guatemala-Stadt selbst. So konnten bisher über 40 Orte ausgestattet werden, vor allem Parks und Spielplätze, aber auch Ausbildungsstätten für Jugendliche und junge Erwachsene. Zudem werden über 1000 junge Menschen mit Bildungsstipendien gefördert.
Programme der internationalen Gemeinschaft wie Convivir sollen die politische und wirtschaftliche Stabilität der Gesellschaft stärken und die Demokratisierung vorantreiben. Ursprünglich war das primäre Ziel des Programms die Kriminalitätsvorbeugung. »Aber die Hilfe aus Deutschland hat es uns auch ermöglicht, die Ungleichheit in unserer Stadt ein Stück weit zu überwinden«, meint Irma Rodas. In den Ausbildungsstätten fördert Convivir besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen mit technischen Kursen wie Automechanik oder Robotik. »Außerdem sollen junge Menschen aus den Armenvierteln lernen, in einem Vorstellungsgespräch sicher aufzutreten. Deshalb gibt es auch Sprachunterricht und Kurse zur Stärkung des Selbstbewusstseins.«
Guatemala ist eine der wenigen Nationen weltweit, der es nicht gelungen ist, eine Mehrzahl der zehn Millenniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen bis 2015 zu erreichen. Die Angst vor Gewalt und Kriminalität ist weit verbreitet. Unterernährung und Rassismus prägen das Leben vieler Mayagemeinden auf dem Land. Eine Mehrheit der Jugendlichen bekommt nach der Grundschule keine weiterführende formale Bildung. Die Visionen großer, gesamtgesellschaftlicher Umwälzungen sind längst verblasst. Heute findet soziale Bewegung im Kleinen statt, dort, wo Angehörige der indigenen Volksgruppen ihre gemeinsame kulturelle Identität stärken, wo arbeitende Kinder ihre Rechte einfordern, wo sich engagierte Frauen zusammenschließen.
Wohlhabende waren anfangs skeptisch
Irma Rodas ist besonders stolz auf die Entwicklung, die das Programm Convivir auf der Plaza Berlin angestoßen hat. Der Platz liegt im Süden der Avenida de las Americas, einer besonders exklusiven Wohngegend der Hauptstadt. Doch nicht weit entfernt beginnt das Arbeiterviertel Santa Fe. Es liegt nur wenige Meter hinter der einzigen Landestrecke des internationalen Flughafens mitten in der guatemaltekischen Hauptstadt. In der Planungsphase des Projekts zur Ausstattung der Plaza Berlin gab es einige Opposition der wohlhabenden Bevölkerung, die in ihrem Wohnumfeld keinen attraktiven, öffentlich zugänglichen Ort haben wollte. »Die Leute hatten Angst, dass Kriminelle und Drogendealer aus der Siedlung Santa Fe den Platz vereinnahmen würden«, erinnert sich Irma Rodas. »Aber so kam es nicht.«
Neben dem Spielplatz stehen zwei große Betonteile, Originalabschnitte der Berliner Mauer. Die Plaza Berlin soll zum einen an die Geschichte der deutschen Teilung erinnern und zum anderen in der Gegenwart Menschen zusammenführen. Im Osten geht der Platz in eine Art Parcours über, ein hübscher Spazierweg unter Bäumen, der von zahlreichen Sport- und Fitnessgeräten gesäumt wird.
Heute ist die Plaza Berlin ein beliebter Ort, an dem Menschen aus unterschiedlichen Schichten und Lebensumständen aufeinandertreffen. »Junge Eltern, die sich sonst nie kennenlernen würden, kommen miteinander in Kontakt«, freut sich Irma Rodas. »Es findet Austausch statt, Vorurteile werden überwunden. Genau das wollten wir mit dem Programm Convivir erreichen.«
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