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Vollkatastrophe Messegeschäft
Mit der digitalen Internationalen Grünen Woche beginnt ein schwieriges Ausstellungs- und Kongressjahr
Dass die volkstümliche Internationale Grüne Woche (IGW) auf dem Messegelände unter dem Funkturm einmal mit einer medizinischen Einrichtung konkurrieren müsste, war bisher unvorstellbar. Doch als die Agrar- und Ernährungsmesse am Mittwoch eröffnet wurde, brachte es selbst das neue, nur spärlich frequentierte Corona-Impfzentrum in Halle 21 auf mehr Besucher. Nach Veranstalterangaben findet die 2021 auf zwei Tage reduzierte Grüne Woche rein virtuell statt. »Ob Dokumentation, Talkrunde oder Interview - auf vier Kanälen können rund 100 Beiträge live verfolgt oder als On-Demand-Video abgerufen werden«, sagte Britta Wolters, stellvertretende Pressesprecherin der Messe Berlin GmbH, dem »nd«. »Unser Engagement ist diesmal auch eine Investition in die Zukunft.«
Dass die 95. Ausgabe der IGW, die als erste große Leistungsschau den Saisonstart markiert, ohne Publikum stattfindet, ist für den Messe- und Kongressstandort Berlin ein böses Omen. »Die Internationale Grüne Woche ist eine der fünf großen Leitmessen der Messe Berlin, die in der Vergangenheit zusammengenommen etwa zwei Drittel des Unternehmensumsatzes ausgemacht haben«, erläuterte Messe-Berlin-Sprecher Emanuel Höger. Und mit 400.000 Messe- und Kongressbesuchern, wie noch vor einem Jahr, sei die Grüne Woche die besucherstärkste Veranstaltung.
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Das Coronajahr 2020 war aus Sicht der landeseigenen Messegesellschaft von dem Bestreben geprägt, für jede Branche möglichst viel an Veranstaltung und Austausch zu bieten. »Abhängig von der jeweiligen Pandemielage hat die Messe Berlin so jeweils sehr unterschiedliche Angebote geschaffen«, sagte Höger. Das reichte von reinen Digitalveranstaltungen, wie der Gesundheitsfachmesse DMEA sparks im Juni 2020 und der Smart Country Convention im Oktober, über angepasste Vor-Ort-Veranstaltungen mit digitaler Erweiterung wie der Internationalen Funkausstellung IFA 2020 Special Edition bis zu notwendigen Verschiebungen von Fachmessen wie der belektro (Elektronik) oder der InnoTrans (Verkehrstechnik).
All diese Entscheidungen seien in enger Absprache mit den jeweiligen Partnern und Branchen gefällt worden. Das habe einerseits zu einem starken Digitalisierungs-Schub, andererseits aber auch zu einem massiven Umsatzeinbruch geführt.
Laut Höger konnte die Messe Berlin 2020 pandemiebedingt nur ein Drittel ihres geplanten Jahresumsatzes erzielen. Der Gesamtumsatz lag demnach in den letzten beiden Jahren zwischen 286 Millionen Euro und 352 Millionen Euro. Die Schwankung komme durch traditionell veranstaltungsstarke und -schwache Jahre zustande, was am Zwei-Jahres-Zyklus einiger Messen liege. »Grundsätzlich gilt, dass laut einer Studie der Investitionsbank Berlin jeder Euro Umsatz der Messe Berlin rund fünf Euro Umsatz für die Berliner Wirtschaft bringt - zum Beispiel durch Taxifahrten, Hotelbuchungen, im Einzelhandel und in der Gastronomie«, so Höger.
Die coronabedingten Absagen der wichtigsten Messen und Kongresse treffen den Wirtschaftsstandort Berlin hart. »Über die letzten Jahre hat sich die Veranstaltungswirtschaft zu einer der wichtigsten Säulen der Berliner Leitbranche Tourismus entwickelt«, schätzt die Senatsverwaltung für Wirtschaft ein. So würden rund ein Viertel bis ein Drittel aller Übernachtungen in Berlin durch die Veranstaltungsbranche generiert. Wie der Sprecher der Senatsverwaltung, Matthias Borowski, mitteilte, haben die Pandemie und die daraus folgenden Einschränkungen für die Tagungs- und Kongresswirtschaft maßgebliche Auswirkungen. »Größere Veranstaltungen sind seit März 2020 faktisch nicht durchführbar«, sagte er. Und anders als in der Gastronomie hätten viele Locations und Dienstleister in dieser Branche keine Einnahmen durch ein To-Go- oder Open-Air-Sommergeschäft erzielen können.
Zwar liegen keine spezifischen Zahlen für die Tagungsbranche vor, aber der gesamte Berlin-Tourismus habe allein zwischen März und September 2020 einen Umsatzausfall von 4,6 Milliarden Euro verkraften müssen, so der Sprecher. Davon entfielen 3,7 Milliarden Euro auf Einbußen im Übernachtungstourismus und 900 Millionen Euro im Tagestourismus. Pro Woche seien Umsätze in Hohe von 154 Millionen Euro entfallen.
Beim Messe- und Kongressgeschäft spricht Thomas Lengfelder, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga) Berlin, von »einer einzigen Katastrophe«. Die Mitgliedsbetriebe, von denen rund 250.000 Menschen leben, hätten 2020 einschließlich der Vor-Corona-Monate Januar und Februar Umsatzverluste von rund 60 Prozent. 84 Prozent sähen sich von Insolvenz bedroht, jeder Dritte erwäge, kurzfristig aufzugeben. Vor zehn Tagen warnte der Dehoga-Bundesvorstand: »Unsere Betriebe befinden sich seit dem 2. November im Lockdown und eine Öffnungsperspektive fehlt.« Die Unternehmen fühlten sich von der Politik im Stich gelassen.
Die Berliner Tourismusbranche stellt sich unterdessen auf ein schwieriges Jahr 2021 ein. Burkhard Kieker, Geschäftsführer der Berliner Tourismus- und Kongressgesellschaft Visit Berlin, rechnet erst ab Sommer mit einer spürbaren Verbesserung. Bis zum Jahresende könnte der Berlin-Tourismus nach seiner Einschätzung wieder auf 50 Prozent des Vorkrisenniveaus von 2019 sein, als die Zahl der Gäste bei 14 Millionen lag und die der Übernachtungen bei 34,1 Millionen.
Auch die Messe Berlin hofft auf die zweite Jahreshälfte. »Messen und Live-Veranstaltungen wird es weiter geben. Der Bedarf in den verschiedenen Märkten nach persönlichem Austausch ist groß«, erklärte Emanuel Höger. »Deshalb steht für uns der Neustart ab Sommer 2021 im Fokus.« Man rechne aber damit, dass die Pandemie die Anforderungen von Besuchern und Ausstellern an Messen und Live-Events verändert hat.
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