Hintergrund der Habenichtse

Verbal hat die Armut viele Gegner. Warum ist sie dann so hartnäckig?

Die Armut hat mächtige Feinde. Die Bundesregierung sieht sie als Problem, der neue US-Präsident Joe Biden hat ihr den Kampf angesagt, der Internationale Währungsfonds warnt vor einem Anstieg der Ungleichheit durch die Pandemie. Dennoch hält sich die Armut hartnäckig. Warum ist das so?

»Die Ursachen für Armut sind vielfältig«, stellt die Diakonie fest. Unter den oft genannten Gründen finden sich Arbeitslosigkeit, Krankheit, hohe Mieten und Niedriglöhne, besonders gefährdet seien Frauen im Rentenalter, alleinerziehende Eltern und kinderreiche Familien. Was hier aufgelistet wird, sind allerdings bloß unterschiedliche Armutslagen. Die Armutsursachen sind weniger vielfältig.

Niedriglohn

Als »armutsgefährdet« gilt in Deutschland, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zu Verfügung hat. Die Ursache von Armut ist daher in Eigenarten der Einkommensquelle zu suchen. Für jene, die nicht vermögend sind, also für die meisten, ist diese Quelle der Arbeitsplatz. Wie viel man dort verdient, wird gerne auf die Leistung der Arbeitenden zurückgeführt. Die Wahrheit aber ist: Der Lohn ist das Ergebnis eines Interessengegensatzes.

Da Unternehmen auf Gewinn und Umsatzsteigerung zielen, wollen sie ihre Kosten gering halten. Sie zahlen daher so wenig Lohn wie möglich und so viel wie nötig. Umgekehrt wollen Beschäftigte möglichst viel Lohn und verzichten so stark wie nötig. Dieser Gegensatz wird als Machtkampf auf dem Arbeitsmarkt ausgefochten. Hier gilt die Daumenregel: Je leichter ersetzbar ein Arbeitnehmer ist, um so geringer der Lohn. Ein Niedriglohn spiegelt also eine schwache Machtposition der Beschäftigten wider, die verbreitet ist: Laut Statistischem Bundesamt galten 2019 in Deutschland 5,7 Prozent aller Vollzeitarbeitenden als armutsgefährdet, woraus sich am Ende des Arbeitslebens häufig die »Altersarmut« (15,8 Prozent der Über-65-Jährigen) ergibt. Wie lohnend geringe Bezahlung sein kann, das belegen die Konten der reichsten Deutschen, zu denen Dieter Schwarz (Lidl), Beate Heister und Karl Albrecht (Aldi) gehören.

Teilzeit

Die betriebliche Kalkulation beinhaltet einen Bedarf an Flexibilität des Arbeitseinsatzes, um regelmäßige, wechselnde oder vorübergehende Lücken im Arbeitsablauf zu füllen. Daraus entstehen befristete oder gestückelte Jobs, wobei weiter die Regel gilt, dass Unternehmen Löhne nur für geleistete Arbeitszeit zahlen. Da viele Jobs schon in Vollzeit wenig bringen, ist Teilzeit häufig gleichbedeutend mit Armut: In Deutschland sind Erwerbstätige mit befristeten Arbeitsverträgen (15,8 Prozent) und Teilzeitarbeitende (12,8 Prozent) überdurchschnittlich häufig arm.

Geschlecht

Mit 9,3 Prozent sind erwerbstätige Frauen häufiger von Armut betroffen als Männer (6,9 Prozent). Ursache dafür ist unter anderem der Gender Pay Gap, der vor allem daraus resultiert, dass Frauen überdurchschnittlich oft schlecht bezahlte Jobs ausführen, häufig auf Teilzeitbasis. Dies ist weniger eine Folge ihrer Biologie, sondern der gesellschaftlichen Rollenverteilung: Überwiegend übernimmt die Frau Arbeiten im Haushalt und in der Kinderbetreuung, die zwar notwendig sind, vom Unternehmen aber nicht entlohnt werden, weil sie keinen Profit bringen. Damit ist die Frau lediglich zu einem familiären Zuverdienst in der Lage, wozu sie allerdings auch gezwungen ist. Denn der Lohn eines Hauptverdieners reicht häufig kaum noch für eine Familie. Der Zuverdienst der Frau bemisst sich nicht mehr an der Finanzierung eines Lebensunterhaltes, sondern ist eben nur das: ein Zubrot.

Die Notlage, die sich für die Frau aus der Rollenverteilung ergibt, machen sich die Unternehmen zu Nutze und bezahlen sie schlecht. Ihr geringeres Einkommen spiegelt daher nicht eine mangelnde gesellschaftliche Wertschätzung von Frauenarbeit. Sondern die Tatsache, dass Frauen auf Grund ihrer Stellung und der daraus sich ergebenden Notwendigkeiten häufig noch erpressbarer sind als Männer und für die Unternehmen daher billig zu haben. Logische Folge daraus ist, dass erwerbstätige Alleinerziehende - meist Frauen - mit einer Armutsquote von über 20 Prozent an der Spitze der gefährdeten Personen stehen. Bei allen Alleinerziehenden lag die Quote über 40 Prozent.

Arbeitslosigkeit

Als Beschäftigte haben Frauen für Unternehmen weitere Nachteile. So berichten Medien, der Textilhändler Hennes & Mauritz wolle bei seinem aktuellen Stellenabbau vor allem Mütter entlassen, da sie samstags und sonntags nicht arbeiten können.

Arbeitslosigkeit ist der Hauptgrund für Armut. Grund dafür wiederum ist, dass man - Vermögende ausgenommen - im hiesigen System nur Überleben kann, wenn man für Unternehmen arbeitet. Die Arbeitslosenunterstützung schafft dieses Prinzip nicht ab, sondern modifiziert es auf besondere Weise: Einerseits soll sie hoch genug sein, um ein Überleben auch ohne bezahlte Arbeit zu ermöglichen. Andererseits soll sie so gering sein, dass Arbeitslosigkeit keine echte Lebensalternative zur Arbeit wird.

Die Folge: Arbeitslose erhalten zwar Unterstützung. Allerdings - in der ersten Stufe - nur zeitlich begrenzt und mit hohem Abschlag zum ursprünglichen Gehalt, was wegen der geringen Lohnhöhe schnell zu Finanznot führt. In der zweiten Stufe wird mit dem Arbeitslosengeld II (Hartz IV) nur noch das Überleben am Rande des Elends ermöglicht. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass ausreichend »Leistungsanreize« zur »freiwilligen« Aufnahme einer Tätigkeit bestehen, auch wenn sie extrem gering bezahlt wird. Zudem bleibt die Arbeitslosigkeit als Drohkulisse für alle Arbeitenden erhalten. »Arbeit muss sich immer mehr lohnen als Arbeitslosigkeit« drückt aus, dass das Wirtschaftssystem auf dem Zwang zur Arbeit beruht, der auch durch ein Bedingungsloses Grundeinkommen nicht ausgehebelt werden darf.

Bildung

Als wichtige Ursache für Arbeitslosigkeit, Niedriglöhne und damit von Armut gilt ein Mangel an Bildung. Doch wird der Job an der Supermarktkasse nicht sicherer oder besser bezahlt, wenn eine Nobelpreisträgerin ihn ausübt. Es sind die Unternehmen, die Bedarf an billiger Arbeit haben und entsprechende Arbeitsplätze anbieten. Was sie da anbieten, ist ein fixes Ensemble von Leistungsanforderungen und Bezahlung gemäß betrieblicher Kalkulation. Die Qualifikation der Bewerber ist lediglich eine Zugangsvoraussetzung. Es stimmt zwar: Höhere Leistungsanforderungen benötigen mehr Fähig- und Fertigkeiten und werden auch besser bezahlt. Daraus folgt aber nicht, dass in Deutschland nur noch gut verdient würde, wären nur alle hoch qualifiziert. Auch die Billigjobs müssen sein und besetzt werden.

Die Armut steht also schon vor der Besetzung des Jobs fest, nämlich in der Gestalt gering entlohnter Arbeitsplätze. Diese werden häufig von Migranten besetzt, deren Lohnbescheidenheit auf zusätzliche Zwänge zurückgeht.

Umverteilung

Häufig wird gesagt, der Grund für die Armut liege darin, dass zu wenig umverteilt werde. So gesehen wäre die Armut in einer staatlichen Unterlassung begründet. Das ist nicht ganz logisch - eine Ursache kann ja schlecht etwas sein, das eben nicht geschieht. Zutreffend ist: Der Arbeitsmarkt produziert die Armut, die durch staatliche Umverteilung bloß vermindert, aber nicht verhindert wird. Wer den Staat verantwortlich macht, hat die Unternehmen bereits aus Verantwortung entlassen.

»Reicher Mann und armer Mann / standen da und sah’n sich an. / Und der Arme sagte bleich: / Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich« - als Bertolt Brecht das schrieb, hatte er kaum Umverteilung im Sinn. Brecht glaubte nicht, der Arme wäre arm, weil der Reiche ihm nichts abgebe. Er wusste, dass es die Armut der einen ist, die den Reichtum der anderen schafft.

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